52. "Ironie des Schicksals"

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"Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag." - Wilhelm von Humboldt

Wenn ich auf die vergangenen vier Monate rückblickte, dann musste ich zugeben, dass sie hart gewesen waren. Abgesehen von der Wohnungssuche und der Jobsuche war vieles weitere hinzugekommen.
Denn, nachdem ich die Scheidung eingereicht hatte, hatte der Kleinkrieg erst richtig begonnen. Meine Eltern hatten sich natürlich an Utkus Seite geschlagen, ihnen war es egal gewesen, wie die Realität aussah. Wichtig war nur gewesen, dass ich ihren Namen in den Dreck gezogen hatte. Wenn ich darüber nachdachte, dann wollte ich einfach nur laut lachen. Doch all die Anstrengungen, die meine Eltern gemacht hatten, um mir meinen Sohn wegzunehmen, war fehlgeschlagen. Das Gericht hatte für mich entschieden. So wie Musa vorhergesagt hatte, wurde Utku das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und er sollte sich Ali erstmal nicht nähern, das war kein Verbot, aber eine Empfehlung des Gerichts und es war nur zu seinen Gunsten, dass er sich daranhielt. Denn der Richter hatte über seine grobe Behandlung Ali und mir gegenüber hinweggesehen. Dank mir. Ich wollte ihm nicht seinen Sohn wegnehmen. Ich wollte nicht so sein wie er. Auch wenn er sich mit meinen Eltern zusammengetan hatte, hatte ich darüber hinweggesehen. Jeder hatte gesagt, dass ich das falsche tat. Jeder bis auf Selin.
'Weißt du, was ich durch meinen Job gelernt habe, Hira? Dass Böses nur noch mehr Böses hervorruft. Leid, nur noch mehr leid mit sich zieht. Rache immer mehr Rache dürstet. Um Menschen gut zu kriegen, musst du sanft zu ihnen sein, voller Nachsicht und musst ihnen verzeihen können. Aber das begreifen die wenigsten', hallten ihre Worte in meinen Ohren. Deswegen hatte ich über so vieles hinweggesehen und hatte versucht so gut wie nur möglich zu Utku zu sein, denn ich wusste, wenn ich ihn als Feind sah, würde Ali ihn auch so sehen und egal wie sehr er es verdient hatte, hatte mein Sohn das nicht verdient. Er sollte seinen Vater nicht als Feind sehen. Denn ich wusste, früher oder später würde er ihn an seiner Seite brauchen und das würde er sich niemals eingestehen, wenn er ihn sich zum Feind machte.
Musa war mir in dieser Zeit eine unheimliche Stütze gewesen und das Verhältnis zu meinem Bruder war interessanterweise so gut wie noch nie. Anscheinend verband Schmerz Menschen doch.
Ali hatte aufgehört pädagogische Hilfe zu bekommen, zum einen hatte er sich geweigert, zum anderen war die Pädagogin überzeugt gewesen, dass er selber damit fertig wurde. Und wenn ich an die vergangenen Monate dachte, dann merkte ich, wie sehr mein kleiner Sohn gewachsen war. Gewachsen an seinem Schmerz.

Durch das Klingeln meines Handys wurde ich von meinen Gedanken geweckt.
"Abi", sprach ich glücklich, dass ich seine Stimme hören durfte.
"Canım", Musa holte tief Luft, während ich schlucken musste. "Mein Beileid", sprach er dann, worauf mir kurz die Luft zum Atmen wegblieb.
"Was soll das heißen?", fragte ich panisch.
"Babamızı kaybettik. (Wir haben unseren Vater verloren.)" Schmerzvoll schloss ich meine Augen. Dies Tatsache durfte, sollte mich nicht so hart treffen, trotzdem tat sie es. Er war mein Vater. Egal wie sehr er mich gehasst hatte, ich trug sein Blut in meinen Adern.
"Ich komme", wisperte ich. "Hira?" "Ja Abi?" "Willst du das wirklich?" Kurz lächelte ich schmerzvoll. "Ich weiß es nicht." "Gelme. (Komm nicht.)" "Und wie soll ich dann mit den Gewissensbissen leben?" Mein Bruder holte tief Luft. "Nimm das Flugzeug, ich will nicht, dass du in diesem Zustand Auto fährst." Wenn Musa wüsste, dass ich des Öfteren Auto gefahren war, als es mir viel schlechter ging.
"Ich bin gerade dabei für euch Tickets zu buchen. Schaffst du es in fünf Stunden am Flughafen zu sein?" "Ist machbar." "Gut." Kurz herrschte Stille. "Euer Flug ist gebucht, ich komme euch dann abholen." "Musa?" "Ja?" "Wie geht es dir?" "So wie es dir geht." Auch wenn er es nicht sehen konnte, nickte ich. "Ich lege auf, dann könnt ihr euch vorbereiten." "Okay."
Als er auflegte, fuhr ich mir verzweifelt durch das Haar und schloss kurz meine Augen, danach lief ich aus der Wohnung, die Treppen rauf, zu Selins Wohnung. Es war so ein unfassbares Glück gewesen, dass die Wohnung unter ihr frei wurde, als ich mich auf Wohnungssuche begeben hatte. Selin hatte mit der Verwaltung gesprochen und so die Sache übernommen. Ein Gefühl in mir sagte, dass diese Sache nicht ganz Rechtens gelaufen war. Denn manchmal hatte ich das Gefühl, dass Selin ihren Job ganz dezent für ihre eigenen Zwecke missbrauchen konnte. Natürlich nur wenn es nötig war. Doch in diesem Fall kam es mir ganz gelegen, also hatte ich nicht geforscht, denn ich wusste, dass es eigentlich unmöglich gewesen wäre, auf die Schnelle eine Wohnung zu finden.

Zum Scheitern verurteiltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt