47. "Das unruhige graue Schwarzmeer"

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"Kim bilir aşıklar mezarında başkaları yüzünden birbirinden vazgeçen kaç mutsuz yatıyor. (Wer weiß schon, wie viele Unglückliche im Friedhof der Liebe liegen, nur weil sie aufgrund von anderen sich gegenseitig aufgegeben haben.)"
- hayalimdin1905

"Und ihr habt hier immer zusammengesessen, während du von Cemre erzählt hast?", fragte ich Azad Dayı, während meine Blicke auf das Schwarzmeer gerichtet waren. Seit zwei Wochen war ich nun hier, bei ihm, und seit letzter Woche unterhielten wir uns ständig. Es tat so unheimlich gut. Er ließ mich meinen Schmerz ausleben, doch sorgte nebenbei dafür, dass ich in ihm nicht verloren ging. Ich hätte mir niemanden besseren als ihn als Stütze vorstellen können.
Auf meine Worte lächelte er. "Nicht nur ich habe erzählt, Hira. Auch Ali hat es getan." Seinen Namen zu hören schmerzte unheimlich, ließ die Reue aufflammen, doch irgendwie war es beruhigend und vertraut. Total paradox und doch so logisch.
"Worüber hat er denn erzählt?", fragte ich interessiert, während meine Blicke zu ihm gedreht waren. Seinen Namen hören ging noch, das überlebte ich, doch ihn aussprechen und zu wissen, dass ich ihn nicht mehr erreichen würde... Das war nichts, womit ich klarkam.
"Das weißt du besser als ich, Hira", sprach er mir ein Lächeln schenkend. Auf seine Worte drehte ich meinen Kopf wieder zum unruhigen Meer. Heute war es ganz besonders unruhig. Es wirkte grau, anstelle von blau. So wie der Himmel. Als ob sich beide abgesprochen hatten. Während der Himmel trauerte, würde das Meer durch seine harten und großen Wellen seine ganze Wut rauslassen. Das Wetter glich heute ganz besonders meinem Inneren.
Die Anspielung in Azad Dayıs Satz und Stimmlage hatte ich rausgehört, doch ich wollte es nicht wahrhaben. Wollte nicht wahrhaben, dass er jahrelang von mir erzählt hatte, während ich es nicht bemerkt hatte, denn es war viel zu schmerzvoll, mehr als das ich hätte ertragen können. Trotzdem wollte ich es hören, wollte wissen, dass er immer nur von mir gesprochen hatte, nie von einer anderen, dass er glücklich gewesen war, wenn er über mich sprach. All das war vielleicht egoistisch. Aber war die Liebe das denn nicht auch?
Man wollte die Person, die man liebte mit niemandem teilen. Man wollte, dass die ganze Konzentration der Person auf einem lag. Seine Augen nur dich sahen und keine andere. Liebe war egoistisch. Nicht im klassischen Sinne, sondern im Sinne von, dass man wollte, dass sich die Welt deines Gegenübers um dich drehte, denn sobald man anfing zu lieben, drehte sich unsere Welt nicht mehr um uns, sondern um unseren Geliebten. War es also nicht Rechtens zu verlangen, dass auch seine Welt sich um uns drehte?
"Er hat von dir erzählt. Immer. Von eurer Kindheit, was du im Moment machst, was deine Träume sind. Wie eure Zukunft aussehen soll. Nie hat er über etwas anderes gesprochen. Und wenn ich ehrlich sein soll, als ich dich an dem Tag, an dem wir gegrillt haben, bei uns gesehen habe, dachte ich mir 'nicht mehr all zu lange und die beiden sind offiziell ein Paar'. Das haben an diesem Tag alle gedacht Hira. Denn keiner der Jungs würde auf eines der familiären Grillpartys ein Mädchen mitbringen, mit der er nicht vorhat zu heiraten. Diese Grillpartys sind heilig für uns alle. Doch vor allem für Meryem, sie legt viel Wert auf die Familie und ihren Zusammenhalt. Ali hätte also niemals ein Mädchen mitgebracht, dass er nicht heiraten will, denn auch wenn wir sehr herzlich sind, nehmen wir an dem Tag ungern Menschen von außerhalb auf." Er seufzte. "Niemand hat verstanden, wieso es danach mit euch nicht geklappt hat." Ich schwieg. "Auch du nicht?" "Auch ich nicht." Doch er hatte bei seinem letzten Satz seine Blicke abgewandt und ich wusste, dass er es wusste. Dass Ali mit ihm gesprochen hatte. Natürlich hatte er das, schließlich war er hierher geflohen. Nebenbei merkte ich, dass Azad Dayı es mir erzählen würde, wenn ich nachgefragt hätte, doch ich tat es nicht, denn ich war nicht bereit dazu. Noch nicht. Ich war einfach noch nicht bereit dazu es zu erfahren, wieso es nicht geklappt hatte, wieso es gescheitert war. Vielleicht floh ich vor der Wahrheit, vielleicht ahnte ich sie, doch wollte sie nicht wahrhaben. Denn ich hatte mir die letzten Tage genug Gedanken gemacht und die Gedanken, auf die ich kam, waren keine schönen. Sie rückten die Menschen in meiner Umgebung in ein schlechtes Licht. Und ich wusste nicht, ob ich bereit dazu war. Bereit dazu nach Alis Tod auch noch zu erfahren, dass es nicht nur an unserer Feigheit gescheitert war, sondern an viel mehr. Ich war nicht bereit diese Leute damit zu konfrontieren, nicht wenn mein Schmerz so frisch war. Vielleicht hoffte ich auch einfach, dass ich so diese Menschen in meinem Leben behalten konnte. Denn so war es leichter. Darüber hinweg zu sehen, so zu tun, als ob es nicht geschehen war. Taten wir das denn nicht alle? Jeder einzelne von uns? Sahen wir nicht über Dinge hinweg, die uns wehtaten, nur um Menschen, die wir liebten, nicht zu verlieren? Doch was war besser? Einen Menschen endgültig aus seinem Leben zu streichen, weil er deinen Wert nicht zu schätzen weiß oder es zuzulassen, dass er dir ständig wehtut?
Ich wusste es, ahnte es. Ahnte, dass viel mehr hinter allem steckte als unsere Feigheit, doch wusste ich auch genauso gut, dass es in unserer Hand gelegen war gegen all das anzukommen. Gegen die Menschen um uns und das allerwichtigste gegen das in uns. Doch wir hatten es nicht getan und hatten verloren. So leicht war das also. Entweder stehst du zu deiner Liebe oder du verlierst sie, ein Zwischending gibt es nicht.
"Wenn du mich suchst, ich bin im Haus", hörte ich seine Stimme und nickte darauf nur. Eine Weile lang musste ich an das Thema denken, bis meine Aufmerksamkeit ein anderes Thema ergriff.
Gestern hatte ich Azad Dayı dabei gesehen, wie er den Duft eines Schals tief in sich gezogen hatte. Als er mich bemerkt hatte, hatten wir darüber gesprochen. Es war Cemres Schal, so wie dieses Haus auch ihr gehört hatte. An ihren Klamotten hing noch ihr Duft. Die Frage war nur wie lange.
'Mit jedem Tag merke ich, wie ihr Duft immer mehr schwindet', hallten seine Worte in meinem Kopf. Dasselbe würde auch mir mit Alis Duft widerfahren, das wusste ich. Mit jedem Tag würde ich ihn immer mehr verlieren, bis er nur noch in meinen Gedanken existierte. Und davor hatte ich große Angst. Nach ihm auch noch die Erinnerungen an ihn zu verlieren, denn diese waren es doch, die uns lebendig hielten. An die wir uns erinnerten, um unsere Sehnsucht zu stillen. Doch ich wollte meine Sehnsucht nicht mit Erinnerungen stillen. Ich wollte sie mit ihm stillen. Es schien unmöglich. Es war unmöglich. Doch trotzdem wollte ich es. Während die Tränen anfingen über meine Wangen zu laufen, fing auch der Himmel an sich von seiner Last zu befreien. Die Tropfen, die mich erreichten, sorgten dafür, dass Azad Dayı mich rein bat und ich kam dem nach.

Zum Scheitern verurteiltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt