54. "Reuevolle Rache"

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"Rache ist Eingeständnis des Schmerzes." - Lucius Annaeus Seneca

Da stand ich nun ganz allein auf dem Balkon und inhalierte die Luft Berlins in meine Lungen.
Wie war ich nur in dieser Stadt gelandet? So weit entfernt von allem, von meiner Familie, von meiner Vergangenheit, von meinen Erinnerungen?
Ich hatte das Gefühl zu ersticken, ersticken an meinen Gedanken, die mich wie ein Feuer gepackt und gefesselt hatten. Mein Leben hätte ganz anders laufen können, ganz anders. Mit dem Mann, den ich wie verrückt geliebt hatte, hätte ich glücklich werden können. Doch ich hatte mich dagegen entschieden, gegen ihn und für die Ehrlichkeit, Treue und ein ruhiges Gewissen.
'Lass uns fliehen, einfach weg von allem, bitte Hira! Wie soll ich den Rest meines Lebens ohne dich verbringen? Wie soll ich es ertragen, dass jemand anderer deinen süßen Duft in sich ziehen wird? Wie soll ich mit dem Gedanken klarkommen, dass du das Bett mit jemand anderem teilen wirst? Hira bitte, wir schaffen das! Ich bin bei dir, wir werden das gemeinsam schaffen! Lass uns zusammen glücklich werden.'
Seine Worte hallten bis heute noch in meinen Ohren, obwohl es Jahre her war. Doch bevor ich an Mitleid und Selbstzweifeln versinken konnte, erinnerte ich mich an die Worte meiner Großmutter. 'Niemals darfst du einem anderen Menschen Unrecht antun Hira, verstehst du? Das ist das Geheimnis unseres Glücks. Yuva yıkanın yuvası olmaz kızım. (Jemand der eine Familie zerstört, dem bleibt eine eigene Familie missgönnt.) Auch wenn dein Opa ein reicher Geschäftsmann ist, hat er nie jemandem Unrecht angetan, er war immer gerecht zu jedem. Sei gerecht mein Kind. Niemals darfst du zulassen, dass jemand wegen dir Tränen vergießt, weil du ihm sein Glück geraubt hast. Niemals, verstehst du?'
"Und was ist, wenn jemand dafür sorgt, dass ich wegen ihnen Tränen verliere, Nene? Was ist mit dem ganzen Leid und mit der ganzen Ungerechtigkeit, die mir angetan wurde?", fragte ich in die Nacht hinein. 'Glaub an Gott mein Kind, glaube daran, dass er jedem das gibt, was er verdient. Wer Unrecht sät, erntet Unrecht', auch an diese Worte konnte ich mich noch erinnern. Meine damalige Entscheidung war also doch die Richtige. Sie war nicht falsch, ich hatte mich richtig entschieden. Gegen ihn und für die Gerechtigkeit. Meine Tränen wischte ich mir weg. Ich hörte hinter mir kleine tapsende Schritte. Direkt bildete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht.
"Anne geliyor musun? Sensiz uyuyamıyorum. (Mama, kommst du? Ich kann ohne dich nicht schlafen.)" Er sah mich mit seinen unschuldigen kleinen dunklen Knopfaugen, die mich an Ali erinnerten, an. Mit einem Lächeln lief ich auf ihn zu und reichte ihm die Hand, worauf er mich an seiner Hand hinter sich herzog. Als wir dann in meinem Bett lagen, roch ich an seinen Haaren, was mir einen inneren Frieden verlieh.
"Sei nicht mehr traurig wegen Utku, okay? Schau ich bin auch nicht traurig. Außerdem gibt es mich, ich beschütze dich schon!", sprach er mit seiner Engelsstimme, was mich zum Lachen brachte. Vielleicht war es besser, dass er nicht wusste, dass meine Trauer nicht wegen seinem Vater war.
"Oğlum. (Mein Sohn.)" Ich roch erneut an seinen Haaren. "Canım oğlum benim. Genau wie du vermisse ich ihn auch nicht. Ich bin so sehr glücklich, mit dir bin ich sehr glücklich. (Mein geliebter Sohn.)" "Anne seni çok seviyorum (Mama ich liebe dich so sehr)", nuschelte er im Halbschlaf.
Was gab es Schöneres auf dieser Welt als ein kleines Kind, das versuchte seiner Mutter den Schmerz zu nehmen?
"Ben de seni biricik oğlum. (Ich dich auch mein einziger Sohn.)" Nach diesen Worten fiel auch ich langsam in den Schlaf.

Das Klingeln der Tür weckte mich aus meinem Schlaf. Ein Blick auf meinen Wecker verriet mir, dass wir kurz vor vier Uhr nachts hatten. Wer klingelte um diese Uhrzeit?
Irritiert stand ich auf und lief zur Tür, wo ich aus dem Spion sah und Selin erblickte. Sie hatte heute Nachtschicht, was mich gewundert hatte, denn es kam zum ersten Mal vor seitdem sie in Berlin war. Sorge, Angst und Vorahnung umhüllten mich, während ich schnell die Tür öffnete. Das erste was mir auffiel, war das ganze Blut an ihrer Kleidung, welches streng nach Eisen roch.
"Selin!", schrie ich besorgt auf, worauf sie direkt reinkam und die Tür schloss. Sie wirkte in Trance und lief ins Wohnzimmer. "Hast du dich verletzt? Sollen wir ins Krankenhaus?" "Das ist nicht mein Blut, Hira." Ich nickte. Sie zog ihre schwarzen Lederhandschuhe aus und lehnte sich erschöpft an das Sofa.
"Wirst du mir erzählen, was war?", fragte ich. Denn dass sie keine Uniform trug, bewies, dass sie nicht im Dienst war. Sie atmete tief durch.
"Ich habe ihn umgebracht. Numans Mörder." Ich sog die Luft scharf in mich. "Und seine Männer", spottete sie.
"Hat es das Feuer in dir gelöscht?" Sie atmete tief ein und aus. "Keine Ahnung Hira. Ehrlich, ich weiß es nicht. Eigentlich schon, also irgendwie. Er war schließlich niemand, der es anders verdient hätte. Er hat so viel Dreck am Stecken gehabt. Anderen Menschen so viel Leid hinzugefügt." Ich nickte verstehend.
"Woher hast du es überhaupt gewusst? Also wo er ist, ich dachte, dass weiß niemand, da er untergetaucht ist." Sie lächelte leicht.
"Ich habe dafür gesorgt, dass man ihn nicht findet, dass man das denkt." Sie zuckte ihre Schultern. "Sie haben gewusst, dass ich ihn suche, das habe ich vor niemanden geheim gehalten, mit Absicht. Weil ich so an den Schreibtisch versetzt wurde." "Willst du mir sagen, dass du die Polizei gehackt hast?", fragte ich mit großen Augen.
"Wenn du einer von ihnen bist, ist das nicht all zu schwer." "Wow okay", brachte ich nur raus. "Ich wurde nicht nach Berlin versetzt Hira, ich habe mich mit Absicht versetzen lassen, denn ich war ihm auf die Spur gekommen." "Und das alles hast du alleine hinbekommen?" "Nicht ganz, ich habe Hilfe von Numans bestem Freund bekommen. Also nicht heute, sondern davor. Alleine wäre das alles vermutlich schwieriger gewesen und hätte vermutlich länger gedauert." Kurz umhüllte uns das Schweigen.
"Hira?" Ich sah zu Selin. "Falls das alles irgendwie rauskommen sollte, wovon ich nicht ausgehe, aber falls-" sie atmete tief durch. "-dann vertraue ich Numan dir an." "Selin-" "-bitte, versprich es mir einfach." "Ich verspreche es." Erneut herrschte Stille und ich wusste, dass nun ich diejenige war, die Beistand leisten musste, nur war ich verdammt schlecht darin.
"Selin, du weißt, dass es nicht falsch war. Es war das Richtige. Sie haben es nicht anders verdient. Sie haben so viele unschuldige Menschen auf dem Gewissen, vor allem Numan." Sie atmete tief durch. "Wann ist Selbstjustiz verantwortbar, Hira?" "Soll ich ehrlich sein Selin? Bei dem Rechtssystem, das wir haben, ist Selbstjustiz verantwortbar. Wenn Wirtschaftsverbrecher härtere Strafen als Vergewaltiger kriegen, dann braucht niemand von Recht und Gerechtigkeit reden. Denn dann verlieren diese zwei Worte an Bedeutung und Wert. Morden ist falsch, ja. Aber wer weiß, wie viele junge Menschen diese Mafiosi durch die ganzen Drogen auf dem Gewissen hatten? Oder wie viele unschuldige Mädchen sie zur Prostitution gezwungen haben. Soll ich ehrlich sein? Solche widerlichen Kreaturen verdienen nichts anderes. Vor allem nicht, wenn der Staat nicht für eine gerechte Strafe sorgt. Dann sollen sie sterben." Selins Augen wurden groß und die sah erstaunt zu mir. "Woher weißt du all das?" "Als du mir davon erzählt hast, habe ich bisschen erforscht. Und das, was ich rausgefunden habe, war mehr als genug." Sie nickte.
"Komm, geh warm duschen, das wird dir gut tun." "Ich sollte runter." "Du solltest nicht alleine bleiben." Sie ergab sich, da sie nicht wirklich in der Lage war eine Diskussion einzugehen. Darauf gab ich ihr Wechselklamotten und ein Badetuch.

Während Selin duschte, musste ich daran denken, was ich getan hätte, wie ich gehandelt hätte. Es war so schwierig. Ich verstand ihre Wut und ihren Schmerz. Ihre Rache und ihre Reue.
"Du hättest nicht so gehandelt wie ich", unterbrach eine Stimme meinen Gedankengang.
"Wie kannst du dir da so sicher sein?" "Hira, du hast nicht mal wirklich reagiert, als-" sie hielt inne. "Utku mich mit Meyra betrogen hat, stimmts?" "Tut mir leid", nuschelte sie. "Nein, alles gut. Glaub mir. Du hast Recht, aber ich habe Utku nie geliebt, Selin. Du Numan schon. Du hast für deine Liebe sogar deine Familie hinter dich gelassen. Es ist also nicht dasselbe." "Hättest du so gehandelt wie ich, wenn dir dasselbe mit Ali passiert wäre?" Tief atmete ich durch. "Ja, also, ich glaube schon. Ich glaube, meine Rache und mein Sohn wären die einzigen zwei Dinge, die mich am Leben gehalten hätten." Nickend ließ sie sich auf die Couch nieder. Man sah ihr die Erschöpfung an.
"Leg dich schlafen", sagte ich mit meinem Kopf Richtung Tür deutend, damit sie sich zu Numan legte, welcher in Alis Zimmer schlief. Sie blickte auf ihre Hände, als ob da noch Blut kleben würde.
"Selin", sprach ich sanft. "Wenn Numan das wüsste..." "Dann wäre er trotzdem stolz auf dich, weil er eine Mutter hat, die standhaft ist. Die sich von nichts unterkriegen lässt. Die eine starke Persönlichkeit ist. Bitte hör auf so ungerecht dir selbst gegenüber zu sein." Mit einem Lächeln bedankte sie sich bei mir und lief dann aus dem Zimmer, um sich zu ihrem Sohn zu legen. Ebenfalls erschöpft nahm ich meinen Kopf zwischen meine Hände und fing an erneut nachzudenken.
Als ich sah, wie der Tag anbrach, schlenderte ich in mein Zimmer und legte mich neben meinen Sohn hin, welchen ich eng an mich zog und wessen Duft ich tief in mich sog.

Hast du es dann auch mal endlich geschafft, Verâ? Ja, mit Verspätung und einem überaus kurzen Kapitel. Das nächste wird wieder länger, versprochen!
Ich plane das nächste Kapitel als Finalkapitel zu schreiben, aber da ich die Länge nicht einschätzen kann, kann es sein, dass ich es einfach teile. Und dann kommt noch ein Epilog. Ich merke, wie ich Hira und Ali endlich freilassen muss.
Und last but not least; die Bonuskapitel aus Alis Sicht. Seid ihr gespannt die wichtigen Wendepunkte aus seiner Sicht zu lesen?
Erst wart ihr wütend auf Ali, dann auf Hira, jetzt wieder auf Ali, mal schauen auf wen ihr am Ende wütend sein werdet.
Ich sage nur das, was ich am Anfang auch immer gesagt habe; Die Frage der Schuld ist bei Zum Scheitern verurteilt nicht so leicht zu klären.
Ich hoffe ihr hattet trotz der Kürze Spaß beim Lesen meine lieben Zuckermenschen und ich hoffe, dass wir ins in Kürze erneut lesen ❤

Eure Verâ ♡

Zum Scheitern verurteiltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt