Kapitel 1

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„Lou?", ich höre eine entfernte Stimme nach mir rufen, aber ich bin zu müde, um ihr zu antworten. Ich drehe mich um, schlinge die Bettdecke noch etwas fester um meinen Körper und kuschle mich tief in die Matratze. „Lou?", schon wieder diese Stimme und meine Augenlider flattern leicht als Reaktion, „Hast du nicht heute deine erste Reitstunde?" Mit einem Schlag bin ich wach, werfe einen Blick auf die Uhr zu meiner Rechten und fluche laut auf: „Verdammt, ich komme zu spät!" „Nun, das wollte ich damit sagen", erwidert mein Freund Sebastian, der neben mir auf der Matratze sitzt und mir einen Kaffee entgegenhält, „Ich kenne dich doch." Er zwinkert und ich nehme ihm dankbar den Kaffee aus der Hand: „Du bist ein Schatz! Wie lange fahre ich dorthin nochmal? 20 Minuten?" Während mein Freund mir antwortet, suche ich die passende Kleidung zusammen, packe die Reitsachen in einen kleinen Rucksack und trinke den lauwarmen Kaffee in schnellen Zügen aus: „Wenn der Verkehr günstig ist, 15 Minuten, aber rechne lieber mit 20 Minuten. Ich habe dich früh genug geweckt, keine Sorge, das solltest du locker schaffen." Bevor ich unser Schlafzimmer verlasse, halte ich mich am Türrahmen fest, werfe einen Blick über meine Schulter und antworte kokett: „Wenn du mich noch ein wenig früher geweckt hättest, wäre vielleicht noch Platz in der Dusche für dich gewesen." Gerade als Sebastian aufspringen will, schüttele ich den Kopf: „Aber leider hast du mich nicht früh genug dafür geweckt. Beim nächsten Mal." Nun zwinkere ich ihm zu und er lacht über das ganze Gesicht: „Touché! Beim nächsten Mal wecke ich dich definitiv früher."

Gute 20 Minuten später verlasse ich unsere Wohnung, die für manch anderer wohl eher einer Studentenbude gleicht als einer vernünftigen ersten Wohnung. Wir machen uns nicht viel aus zusammenpassenden Möbeln, weshalb wir nach dem Studium unsere WG-Zimmer zusammenpackten und all ihre Inhalte in unsere jetzige Wohnung platzierten. Wir verdienen noch nicht genug, sind noch nicht lange genug im Business, um Unmengen an Geld in Möbel zu investieren. Nicht, dass ich nicht gerne eine schöne Couch im Wohnzimmer haben würde, aber Sebastian wollte sich zuerst einen großen Fernseher gönnen, weshalb wir nun auf einer durchgesessenen, alten Couch vor diesem sitzen, um unsere Abende ausklingen zu lassen. Mein Rücken lässt mich immer wieder wissen, wie unpassend diese Sitzgelegenheit ist, aber ich schiebe es doch immer wieder gerne auf den Mangel an Sport. Ich schmeiße meinen Rucksack in den Kofferraum unseres kleinen Golfs, die Handtasche landet direkt neben mir und kurze Zeit später bin ich bereits unterwegs zum Reitstall. Ich bin froh in der für mich noch immer neuen Stadt eine Beschäftigung gefunden zu haben, die mir etwas Neues bietet und mich von dem ein oder anderen Schicksalsschlag ablenkt. Noch dazu bringt sie die Bewegung in mein Leben, die ich zuvor bemängelt habe. Ich schwankte lange zwischen Leistungsschwimmen, Kraftsport, Tennis und Reiten, aber ich wollte etwas Neues probieren und so hat mir meine beste Freundin Elaine den Reitstall in der Nähe ihres Elternhauses empfohlen. Den Stall besichtigte ich bereits vor drei Wochen, die Reitlehrerin die mich unterrichten wird, war zu diesem Zeitpunkt zwar im Urlaub, aber die Atmosphäre dort war so ansprechend, dass ein Kennenlernen für mich nicht unbedingt zu einer Zusage gehörte. Elaine versicherte mir, ich würde Vivien, die Reitlehrerin, mögen, sie war ein paar Jahre älter als ich, arbeitete in ihrer Freizeit im Stall und Hauptberuflich als Lehrerin am Gymnasium im Ort. Ich bin hier nicht aufgewachsen, kenne weder die Leute noch die Orte von denen Elaine erzählt, aber das ist doch genau das Aufregende an einem Neustart, oder? Ein intensives Prickeln erfasst meinen Körper und ich mache mich auf dem Weg zum Reitstall.

Wie von Sebastian vermutet, komme ich genau 20 Minuten später am Stall an, der Verkehr war die Hölle. Eilig klaube ich meine Sachen zusammen, schließe den Golf ab und marschiere Richtung Hauptgebäude. Die Besitzerin vom Reithof erwartet mich dort, Frau Räker ist eine Frau Ende 60, die den Hof von ihren Eltern übernommen hat. Sie strahlt eine Wärme aus, die mich an meine Großmutter Else erinnert. Ein schmerzlicher Schauer durchfährt mich und ich versuche nicht an sie zu denken, was mir vor allem in den Wintermonaten schwerfällt. Sie zu verlieren, hat viel in mir verändert, sie war mein Anker, mein zu Hause und meine Bezugsperson. Nun schaut sie gemeinsam mit meinen Eltern von oben auf mich herab. Frau Räkers Gesichtszüge sind etwas schmaler als die meiner Großmutter, doch auch ihr Kopf ziert eine graue Lockenmähne, die ihr bis zu den Schultern reicht. Dort hören die Ähnlichkeiten zwar auf, aber die Wärme, Geborgenheit und Lebensfreude, die sie versprüht, erinnert mich dafür umso mehr an sie. Ich nehme einen letzten, tiefen Atemzug und schreite durch die Tür, gehe über den kleinen Flur zur Küche, wo mich Frau Räker bereits erwartet. „Guten Morgen, Frau Neuer. Bereit für Ihre erste Stunde?", fragt sie mich und klopft auf den Stuhl neben sich. „Guten Morgen, Frau Räker", ich unterdrücke ein Gähnen, lasse mich neben ihr nieder und fahre fort, „Aber sowas von, jedoch bin ich ziemlich aufgeregt." „Sie sitzen das erste Mal auf einem Pferd, habe ich das richtig in Erinnerung?", fragt sie mich und schiebt mir wortlos eine Tasse Tee entgegen, die ich dankbar entgegennehme. Meine steifen Finger schließen sich um die heiße Tasse Tee und lockern die Glieder: „Das ist richtig... und dass in meinem Alter." Wir lachen beide, doch kurz darauf wird sie wieder ernst und erwidert: „Man ist nie zu alt für ein neues Hobby, merken Sie sich das, Frau Neuer. Die Pferde werden Ihnen ein Gefühl vermitteln, was Sie nie zuvor verspürt haben. Ruhe, Ausgeglichenheit, Sie werden die Welt um sich herum vergessen. Und machen Sie sich keine Sorgen, meine Tochter ist eine gute Lehrerin, Sie werden im Nu fest im Sattel sitzen." „Mein Freund hielt mich für verrückt als ich ihm erklärte, dass ich mit dem Reiten anfangen will. Verstehen Sie mich nicht falsch, er unterstütz mich, wo er nur kann, aber er meint, ich wäre gut 18 Jahre zu alt für dieses Hobby", lachend stelle ich die Tasse ab und kaue unbewusst auf meiner Unterlippe herum, eine Angewohnt die immer Zutage kommt, wenn ich nervös bin. Ich kenne hier zwar niemanden, aber ich will nicht zu unsicher rüberkommen, was vermutlich schon jetzt der Fall ist. „Wie alt sind Sie, Liebes? 25? Selbst mit 40 wären sie nicht zu alt für dieses Hobby, auch nicht mit 50 oder 60. Unsere älteste Reitschülerin war 55 als sie hier angefangen hat, also lassen Sie sich nicht entmutigen und genießen die Zeit mit den Pferden", erklärt mir Frau Räker, die mir sanft die Hand tätschelt und sich dann erhebt, „Trinken Sie ruhig noch aus, ich schaue kurz, wo meine Tochter bleibt."

Vom Flieder so bunt (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt