Kapitel 10

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„Ich mag nicht mehr", meckere ich und klappe meinen Laptop zu, „Michael hat doch einen Schaden." Natalie presst geräuschvoll Luft aus ihrem Körper, klappt ebenfalls ihren Laptop zu und verstaut ihn in ihrer Tasche: „Es ist reine Schikane, er führt uns vor, wo er nur kann. Das kann er doch nicht ernst meinen, oder?" Ich schüttle den Kopf und lasse den ganzen Tag Revue passieren. Wenn ich Sebastian davon erzähle, werde ich auf keinerlei Verständnis stoßen, das weiß ich schon jetzt. Vielleicht hat Elaine heute Zeit, um mir ein wenig Mut zu geben. Außerdem brauche ich noch alle Details über ihren Urlaub in Bali. Sie waren drei Wochen dort und sie ist bereits seit einer Woche wieder da, bisher hatten wir beide keine Zeit, aber spontane Treffen sind doch die besten. „Ich komme mir vor, als könnte ich nichts", klage ich und spüre die Schwere in mir nur zu deutlich. „Das hier ist einfach nur toxisch, er behandelt uns, als wären wir Kleinkinder. Ich bin durch mit dieser Firma", schimpft Natalie und spricht mir damit aus der Seele. Ich denke immer wieder an das Gespräch mit Vivien zurück, die mir mit ihren Worten viel Kraft und Selbstbewusstsein gegeben hat. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, meine Zukunft in die Hand zu nehmen. Hier werde ich vermutlich nicht mehr glücklich. „Wir sollten kündigen", wispere ich und Natalie zieht die Augenbrauen fragend hoch. „Was hast du gesagt?", hakt sie nach, Unglaube schwingt in ihrer Stimme mit, „Habe ich mich verhört, oder hast du gesagt, wir sollten kündigen?" „Hm, das habe ich gesagt", bestätige ich und klappe meinen Laptop zu, „Wenn ich eins gelernt habe, dass wir viel mehr wert sind, als Michael uns glauben lässt. Wir sind wertvolle Arbeitskräfte, mit jahrelanger Erfahrung, sehr guten Ergebnissen bei unseren Projekten und einer Expertise, die er nicht untergraben sollte. Es ist vollkommen in Ordnung einen anderen Geschmack zu haben, das ist in unserem Job leider alles nicht objektiv, aber uns persönlich fertig zu machen? Uns das Gefühl zu geben, wir wären schlecht? Das geht gar nicht und nicht wir sind an der Situation schuld! Er ist einfach ein schlechter Chef!" Natalies Augen fallen mir fast entgegen und sie befühlt mit ihrer Hand meine Stirn: „Hast du Fieber? Wer bist du und was hast du mit meiner Kollegin Louisa gemacht?" Ein sanftes Lächeln hat sich auf ihr Gesicht geschlichen und ich schiebe ihre Hand von meiner Stirn, nur um sie kurz darauf zu drücken und zu erwidern: „Wir sind mehr Wert, wir haben Respekt verdient, Nat."

Wenig später sitze ich im Bus, mit Musik in meinen Ohren und einem Ziel vor Augen. Wenn ich jetzt nicht langsam die Reißleine ziehe, werde ich mich auf ewig ärgern. Am Wochenende werde ich Bewerbungen schreiben und endlich an meiner Zukunft arbeiten. Ich blicke aus dem Fenster und sehe nichts, mein Kopf ist voller Gedanken und meine Augen schaffen es kaum, das Treiben vor mir zu erfassen. Ich starre vor mich hin und realisiere gerade noch rechtzeitig, dass ich aussteigen muss. Leichtfüßig hüpfe ich auf den Asphalt und die Bustür schließt sich quietschend, vor mir steht eine Blumenpracht, die nicht nur optisch ein Traum ist, sondern auch für meine Nase eine Wohltat ist. Die Blumen schaffen es den Stadtgeruch zu übertünchen, die Abgase, die Essensgerüche und den stinkenden Gulli auszuradieren. Ich atme tief ein, verweile mit meinem Blick für eine Sekunde auf einem kleinen, bunten Blumenstrauß und gehe dann eilig Richtung Elaine und Bens Wohnung. Sie wohnen in einem gemütlichen, kleinen Viertel. Hier reihen sich haufenweise Läden aneinander, es gibt auch eine Straße, in der es nur so von Kneipen und Restaurants wimmelt. Es wird liebevoll Völler Kiez genannt, Bernadette Völler gehörte damals zu den ersten Frauen in dieser Stadt, die die Rechte der Frauen in unserer Stadt vorangetrieben hatte. Sie wohnte in dieser Straße und eröffnete eine kleine Kneipe, die es noch bis heute gibt. Sie mag zwar nicht mehr unter uns weilen, aber sie ist eine kleine Legende in unserer Stadt. Ich passiere das Völler Kiez, Grüße zwei ehemalige Kommilitonen, die mir entgegenkommen und biege in die Chaussauer Allee ab. Bäume säumen den Wegesrand und sind vor allem im Sommer eine eindrucksvolle Szenerie, obwohl ich den Herbst noch immer bevorzuge. Sebastian kann es nicht verstehen, denn er liebt den Sommer und die roten, gelben und orangen Farben des Herbsts widerstreben ihm. Ich klingle am Haus Nummer 9 und als die Gegensprechanlage knackt, sage ich nur: „Ich bin's." Wenige Sekunden später bin ich drinnen, steige die Altbautreppen hinauf und halte in der zweiten Etage vor der Wohnung meiner besten Freundin. Die Tür geht auf und Elaines Umarmung stiehlt mir fast die Luft zum Atmen. Sie sieht gut aus, erholt und unheimlich glücklich. Ihre Haut ist leicht gebräunt, durch ihr Haar ziehen sich hellere Strähnen, wie von der Sonne geküsst und das Lächeln verlässt nie ihre Augen. „Gut siehst du aus", nuschle ich in ihr Haar, hauche ihr einen Kuss auf die Wange und blicke kurz darauf zu ihrer Hand hinunter, die sie mir entgegenhält. „Danke", erwidert sie leicht verlegen und fügt hinzu, „Du siehst aber auch ganz passabel aus." Wir lachen aus tiefstem Herzen, dann zieht sie mich herein und wir landen in der Küche, wo bereits ein geöffneter Wein auf mich wartet. „Du weißt genau, was ich jetzt brauche, was?", lachend greife ich nach dem Glas und halte es ihr entgegen, „Lass uns auf euch anstoßen! Und dann musst du mir alles erzählen!"

Vom Flieder so bunt (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt