Kapitel 6

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Heute ist der Todestag meiner Eltern, der Tag, den ich am liebsten für immer vergessen würde. Eine erdrückende Last auf meinen Schultern, einem metallischen Panzer um mein Herz und einer Trauer, die meinen ganzen Körper einnimmt, erfasst mich jedes Jahr aufs Neue. Nicht, dass es an anderen Tagen besser ist, aber an diesem speziellen Tag, fühlt sich alles noch viel schlimmer an. Reeller, wahrhaftiger, eine Tatsache, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Mein Körper streikt und ich bleibe liegen, lausche dem prasselnden Regen, der gegen unsere Scheiben schlägt. Ich atme aus, atme ein, höre das Blut in meinen Ohren rauschen, spüre meinen Puls, der immer schneller wird. „Ich habe dir einen Kaffee gemacht", unsere Matratze geht an einer Seite leicht hinunter und Sebastian legt sich neben mich. Er hält mir den Kaffee entgegen, ich rieche die gerösteten Bohnen und sauge den Geruch auf, nehme meinem Freund den Becher ab und gönne mir einen Schluck. „Und wenn du Hunger hast, liegt auf dem Teller zu deiner Rechten ein geschmiertes Croissant mit Nutella bereit. Es ist sogar noch etwas warm", fährt er fort und die Trauer ebbt ein Stück weit ab, „Dein liebstes Buch liegt genau daneben und hier ist dein Wärmekissen." Er haucht mir einen Kuss auf den Scheitel und Wärme durchsickert meine Knochen. Sebastian weiß genau wie es mir heute geht und seine Liebe ummantelt mich wie eine Gewichtsdecke. Ich lehne mich gegen ihn und spüre seine Hand in meinem Haar, langsam gleiten seine Finger über meine Kopfhaut und üben leichten Druck aus. Seufzend nehme ich einen weiteren Schluck von meinem Kaffee und presse die Augen zusammen, vom vielen Weinen brennen meine Augen noch immer und etwas Dunkelheit sind in diesem Moment eine Wohltat. „Möchtest du etwas allein sein, oder wollen wir einen Film schauen?", fragt mein Freund nach ruhigen zehn Minuten, in denen ich keine Anstalten gemacht habe, das Croissant zu essen, oder das Buch in die Hand zu nehmen. „Ich weiß es nicht", antworte ich ehrlich und schaue zu ihm hoch, „Vielleicht weiß ich die Antwort nach einem Kuss."

Der Kuss verbessert zwar nicht meine Laune, aber nach einem ausgiebigen Frühstück, einem Disneyfilm und einem Bad in unserer großen Wanne, fühle ich mich etwas menschlicher als nach dem Aufstehen. Die eisige Kälte in meinem Inneren wird auch nicht von meiner dampfenden, warmen Haut erwärmt und alles, was ich will, ist die Gedanken frei kriegen. Ich tapse aus dem Bad und suche meinen Freund, der mir die letzten zwei Jahre halbwegs erträglich gemacht hat und diesen Tag mit mir verbringt, egal was kommt. Ich entdecke ihn auf unserer Couch, die durchgesessen und nicht mehr allzu bequem ist, mit einem Controller in der Hand. Er spielt Fifa. Ich setze mich zu ihm und schaue ihm eine Weile zu, ich spüre immer wieder mal seine Hand auf meinem Knie, einen kurzen Blick in meine Richtung, bis ich einschlafe und die Welt um mich herum vergesse.

Ich wache von einem allzu bekannten Geruch auf, es riecht nach Pizza und Cola. Eine Decke liegt über mich drapiert und auf unserem alten Couchtisch steht eine große Brokkolipizza, eine Cola, sowie ein Salat. „Na, Hunger?", fragt mich Sebastian, der mich verschmitzt anlächelt und herzhaft von seinem Pizzastück abbeißt. „Oah", entfährt es mir und ich lecke mir die Lippen, „Du weißt einfach genau, was ich will." Er antwortet mit einem breiten Grinsen, einem fettigen Kuss und schaltet den nächsten Film an: „Für dich alles, Lou." Er hört nicht das Gedankenkarussell in meinem Kopf, spürt nicht den Schmerz, den ich fühle und doch ist er zu jeder Sekunde für mich da. Ohne Wenn und Aber begleitet er mich durch den Tag, schweigt wenn ich schweige, redet wenn ich es tue und umsorgt mich, als gäbe es keinen Morgen. Ich weiß nicht, womit ich seine Liebe verdient habe, aber ich weiß es sehr zu schätzen, denn nichts davon ist selbstverständlich. Nach dem Tod meiner Eltern haben sich viele Leute von mir abgewandt, ob es an mangelnder Empathie lag, oder dass sie nicht mit der Thematik Tod umgehen konnten, sei dahingestellt. Ich bin froh über die Menschen in meinem Leben, die mich nicht verlassen haben. Das sind die wahren Freunde, die Menschen, die es ernst mit einem meinen. Auf die anderen Menschen konnte ich auch genauso gut verzichten. Vermutlich war ich in der Zeit auch nicht sehr ertragbar, aber konnte man es einem jungen Mädchen, dass gerade beide Elternteile verloren hatte, verübeln? Ich würde sagen nein. Ich habe die Menschen gehen lassen, eine Weile trauerte ich auch um sie, aber ich erkannte schnell den wahren Gedanken dahinter. Ich wollte nicht bemuttert oder umsorgt werden, ich brauchte auch nicht immer ein offenes Ohr – aber ein wenig Empathie wäre schön gewesen. Ein paar nette Worte, etwas Ablenkung. Doch sie gaben mir nichts davon. Sie redeten zum Teil noch hinter meinem Rücken, weshalb ich meiner Heimatstadt zu Studienzwecken den Rücken kehrte. Natürlich ist es mir nicht leichtgefallen, meine Großmutter zurückzulassen, aber auch sie erkannte diesen wichtigen Schritt für mich und ermutigte mich, woanders zu studieren. Es ist die beste Entscheidung meines Lebens gewesen, ich lernte Sebastian kennen, Elaine, Ben, Natalie und viele mehr. Natürlich machte ich mir schwere Vorwürfe als meine Großmutter gut ein Jahr später starb, aber der Krebs hätte sich auch durch meine Anwesenheit nicht aufhalten lassen. Sie bemerkte es viel zu spät und jede Behandlung wäre umsonst gewesen, weshalb sie sich entschied, die letzten Tage zu genießen. Wir fuhren gemeinsam an die See, besuchten eins ihrer liebsten Museen, schlugen uns die Bäuche voll mit Eis, bis sie nicht mehr konnte und etwas später von uns ging. Wir hatten das Beste aus ihren letzten Tagen gemacht und dennoch kämpfte ich gegen meine Schuldgefühle an. Immer und immer wieder, mal mehr mal weniger, jeden Tag aufs Neue.

Ich atme, ich lebe, ich weine und ich lache. Dieser Tag erdrückt mich trotzdem, auch wenn Sebastian alles dafür getan hat, dass es mir gut geht. Er glaubt, ich könnte all das für einen Moment vergessen, aber ich durchlebe an diesem Tag alles aufs Neue. Sebastian drängt mich nicht darüber zu reden und ich vermeide es so gut es geht, auch an anderen Tagen. Er weiß was passiert ist, er ahnt, wie es mir geht, er tut alles für mich. Doch mein tiefstes Innerstes kennt nicht mal er.

Vom Flieder so bunt (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt