Kapitel 11

656 69 6
                                    

Die Busfahrt zu Vivien ist still und meine Gedanken rasen trotzdem, ich hatte geahnt, bei Elaine nicht über meine Entscheidung im Beruf reden zu können, da die Verlobung viel wichtiger war. Jedoch hat mich der Besuch mehr aufgewühlt als beruhigt, ich dachte für einen Moment, ich könnte alles vergessen, aber die Fragerei um Sebastian und unseren Streit, hat mich angespannt und viel von mir abverlangt. Obwohl es schon spät ist, fahre ich zu Vivien, deren dringliche Nachricht ebenfalls nicht aus meinem Kopf verschwinden will und obwohl ich den Abend mit meinem Freund verbringen wollte, sitze ich nun in einem stinkenden, kalten Bus. An der stockdusteren Bushaltestelle steige ich aus, marschiere schnellen Schrittes Richtung Reiterhof und sehe kurz darauf im ganzen Haus hell erleuchtete Fenster. Es ist spät, fast 21 Uhr und ich wundre mich, wieso in dem Haus noch so viel Leben herrscht. Mit wackligen Beinen und leicht pochendem Herzen klingle ich bei Vivien, das Knacken der Gegensprechanlage signalisiert mir ihre Anwesenheit, aber sie sagt kein Wort. „Vivien?", hake ich deshalb nach und ich glaube ein Seufzen zu hören, „Ich bin's Lou." Die Tür geht mit einem Summen auf und wenige Sekunden später stehe ich vor der Wohnungstür von Vivien und Oliver. Die Tür geht auf und ich blicke in das verweinte Gesicht von Vivien. Ihre Augen sind rot, ihr Gesicht geschwollen, sie trägt einen weiten, dunkelblauen Pullover mit dem Print Harvard darauf, eine grau melierte Jogginghose und ihre Haare zum Zopf. Ihr kantiges Gesicht kommt dadurch mehr zum Vorschein, ihr Kieferknochen ist zwar spitz, aber an genau den richtigen Stellen geschwungen, erst Richtung Ohr kommt der harte Bruch. Heute trägt sie nur kleine Stecker in den Ohren, es sind sechs an der Zahl, ihre Kette, die sie sonst immer trägt, ist nirgends zu sehen. Ich schlucke, wende meinen Blick ab und öffne meine Jacke, während ich frage: „Was ist los? Was ist passiert?" Viviens Lippe zittert und ich ahne bereits, dass ich jetzt noch kein Wort von ihr hören werde. Ich gehe langsam auf sie zu und sie weicht keinen Millimeter zurück. Sie wirkt zerbrechlich, fast schon gebrochen und alles in mir zieht sich zusammen. Sie geht noch immer keinen Schritt zur Seite, weshalb ich einen weiteren auf sie zumache und uns somit nur noch eine halbe Armlänge voneinander trennt. Tränen füllen ihre Augen und sie fallen schneller als ich blinzeln kann. Meine Arme schnellen nach vorne und intuitiv ziehe ich sie in eine feste Umarmung. Wir seufzen beide und ihr Duft nach Blumen nimmt mich ein, befördert mich zurück zu unseren ersten Begegnungen und doch wieder ins Hier und Jetzt. Sie zittert in meinen Armen und ich schließe mit meinem Bein die Wohnungstür, streife meine Schuhe ab und gerade als ich sie loslassen will, um sie Richtung Wohnzimmer zu bugsieren, umfassen mich ihre Hände ein wenig fester. Lagen sie vorher noch etwas hilflos an den Seiten, umfassen sie nun fest meine Rückenpartie und ich spüre ihren ganzen Körper deutlich an meinem. Ein heißer Schauer durchfährt mich und ich widerstehe dem Drang, sie von mir zu stoßen. Dieses Gefühl macht mir Angst und es ist groß, undefinierbar und verrückt. Unweigerlich vergleiche ich das Gefühl mit jeder Umarmung, die ich in meinem Leben genießen durfte und nicht eine davon kommt an diese heran. Keine hat sich jemals so... warm und lebendig angefühlt und das, obwohl Vivien gerade so traurig ist. Wieder sträubt sich alles in mir und meine Finger jucken regelrecht, doch ich widerstehe dem Drang sie fortzustoßen und streiche ihr sanft über den Rücken. Ich tue das, was ich von meinen Freunden wollen würde, wenn es mir schlecht geht. Sie zittert in meinen Armen und als ich spüre, wie sie ihr Kinn auf meiner Schulter ablegt, lehne ich meinen Kopf vorsichtig gegen ihren. Wir verweilen einen Moment in dieser Position bis ihre Tränen versiegt sind und sie sich sanft aus meiner Umarmung löst. Wortlos geht sie Richtung Wohnzimmer und ich folge ihr. Ich lausche nach Oliver, doch es ist still in der Wohnung, das ganze Haus wirkt leer. Vivien setzt sich hin, vor ihr steht eine Flasche Wein und zwei gefüllte Gläser, sie schiebt mir wortlos ein Glas entgegen. Ich nehme zwar neben ihr Platz, aber zwischen uns würde noch locker eine Person passen, womit ich mich in diesem Moment ganz wohl fühle. Dennoch entgeht mir nicht wie sehr sie zittert, weshalb ich nach der Decke rechts von mir greife und sie um ihre Schultern lege. Dankbar lächelt sie mir zu, auch wenn das Lächeln nicht ihr ganzes Gesicht erreicht und kuschelt sich in die Decke hinein. Ich dränge sie nicht zu reden, sondern mache es mir ebenfalls gemütlich und blicke mich verstohlen um. Es ist gute fünf Minuten still und ich spüre, wie sie vorsichtig näher rückt und den Mund immer wieder öffnet, um etwas zu sagen, allerdings kommt kein Ton heraus.

Vom Flieder so bunt (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt