Kapitel 12

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„Du schreibst ernsthaft Bewerbungen?", fragt mich Sebastian, der gerade erst nach Hause gekommen ist. Es ist eine Woche vergangen, in der ich mich nicht aufraffen konnte, irgendwas zu tun. Meine Gedanken haben mich zu sehr eingenommen, die Arbeit war stressig und Sebastian so unkooperativ wie eh und je. Unsere Date-Night sagte er kurz vorher ab, da war ich bereits im Restaurant. Leto kennt jemanden, der ein Auto verkauft. Und so saß ich allein im Restaurant, abserviert vom eigenen Freund und zu beschämt, um einfach zu gehen. Ein Abend allein im Restaurant ist eine Erfahrung die man gemacht haben sollte, aber die mitleidigen Blicke der anderen Gäste, haben es fast zunichte gemacht. Natürlich war ich schlecht drauf, da mein eigener Freund mich so spontan versetzt hatte, aber die Erfahrung an sich machte mir nichts aus. Am nächsten Tag wollten wir unser Schlafzimmer umstellen, da der Kleiderschrank bereits in einer Woche geliefert wird und die Wände brauchen einen Neuanstrich. Ich war bereits im vollen Gange unsere Klamotten in Kisten zu packen, als ich eine Nachricht von ihm bekam, dass es heute später werden würde. Auch nach weiteren zwei Stunden war er noch nicht zu Hause, da postete Leto etwas in seiner Story, was mich vor Wut zittern ließ. „Bier und Zocken mit dem Besten", stand unten in der Ecke, darauf war mein Freund verlinkt. Erbost rief ich ihn an und unser Streit eskalierte, er kam an diesem Abend nicht nach Hause. Nun beugt er sich über mich, haucht mir einen Kuss auf den Hals und gleitet mit seinen Händen an meinem Bauch hinab, es folgt ein weiterer Kuss und ich drücke ihn sanft von mir. „Ich schreibe ernsthaft Bewerbungen und dabei will ich nicht gestört werden", erläutere ich und schreibe einfach weiter. Ich höre ihn leicht Schnauben, dann wandern seine Hände einfach weiter. „Sebastian", knurre ich und eine meiner Augenbrauen schießt in die Höhe, „Nicht jetzt. Ich muss mich konzentrieren und will wenigstens eine Bewerbung rausschicken." Nun seufzt er lautstark, verdreht die Augen und lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen: „Wieso willst du unbedingt woanders arbeiten? Du hast einen sicheren Job, verdienst gut Geld, was wir im Übrigen dringend brauchen. Du weißt wie viel das Auto kostet, was zur Auswahl steht. Und dann willst du die Wohnung weiter einrichten, auch das kostet Geld. Jetzt den Job zu wechseln, halte ich für keine gute Idee." Irritiert schaue ich zu ihm, schürze leicht die Lippe und versuche ruhig zu antworten: „Du weißt ganz genau, warum ich mich woanders bewerbe. Ich halte es dort nicht mehr aus und mir ist mein Seelenwohl wichtiger als das Geld oder sonst was. Mir geht es dort nicht mehr gut, Sebastian. Michael schikaniert mich, wo er nur kann, meine Arbeit erfährt keine Wertschätzung. Es geht mir nicht gut und du willst
doch nicht, dass ich mich für immer so schlecht fühle, oder? Außerdem werde ich im neuen Job auch Geld verdienen, mutmaßlich sogar mehr als jetzt, da sie mich in dieser Firma ausbeuten. Keine einzige Gehaltserhöhung war drin, weder für mich noch für Natalie, aber alle anderen in der Abteilung haben eine bekommen. Das Auto ist viel zu teuer, das habe ich dir schon mehrmals gesagt, es würde auch ein günstigeres Auto seinen Dienst tun... Und willst du jetzt ernsthaft alles auf mich schieben? Du selbst findest es hier doch auch nicht schön." „Ich würde bereits nach einem Haus schauen und hier keinerlei Arbeit mehr reinstecken", ist alles, was er sagt und bringt damit das Fass zum Überlaufen. Es ist als hätte ich sonst nichts gesagt, er greift einfach wieder das Thema auf, wo er genau weiß, dass unsere Meinungen auseinander gehen. Wenn er sich erhofft, so meine Meinung zu ändern, glaube ich langsam, mein Freund kennt mich nicht gut genug. „Ist das gerade dein Ernst?", frage ich erbost nach und seine Miene ist verhärtet. In meinem Kopf schwirren so viele Fragen, ich verstehe nicht, wann wir falsch abgebogen sind, wann unsere Wünsche und Vorstellungen so auseinander gegangen sind. Es will nicht in meinen Kopf gehen und als er mir keine Antwort gibt, klappe ich meinen Laptop zu, stehe auf und gehe ins Schlafzimmer. „Wo willst du hin?", fragt er zornig, „Du kannst nicht immer weglaufen!" „Weglaufen?", lachend stopfe ich meinen Laptop in meinen Rucksack und drehe mich zu ihm, „Ich laufe nicht weg. Ich ertrage es gerade einfach nicht mehr."

Nach mehreren Stunden in der Bibliothek und einigen abgeschickten Bewerbungen mache ich mich auf den Weg zu Natalie, die mich zu sich eingeladen hat. Ich habe ihr nach dem Streit mit Sebastian eine Nachricht geschrieben und auch ihr scheint es nicht besser zu gehen. Wir mussten miteinander reden, weil nur wir uns verstehen. Wir sitzen in demselben Boot, es sinkt langsam, aber bestimmt. Eilig klaube ich meine Sachen zusammen und gehe den Weg zu ihrer Wohnung zu Fuß, sie wohnt nicht weit entfernt und sich die Beine zu vertreten, ist nach so vielen Stunden im Sitzen eine Wohltat. Keine 15 Minuten später stehe ich vor ihrer Tür und als sie mir öffnet, schlägt mir der Duft von Nudeln und Tomatensoße entgegen. „Du bist genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen", sagt sie und zieht mich in eine Umarmung. Ich ziehe meine Schuhe aus, stelle meine Sachen an ihrer Kommode ab und erwidere: „Und ich dachte wir wollen gemeinsam kochen?" „Ach, wir haben besseres zu tun als unsere gemeinsame Zeit mit Kochen zu verbringen", lacht sie und zieht mich in ihre Küche. Die roten Lackfronten sind in die Jahre gekommen, aber sie geben der Wohnung einen gewissen Charme und aus genau diesem Grund, hat Natalie sich auch dagegen entschieden, eine eigene Küche mitzubringen. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und antworte: „Jetzt komme ich mir schlecht vor, ich hätte zumindest noch etwas Wein besorgen können." „Auch dafür ist gesorgt", sie deutet auf ihren kleinen Kühlschrank und fährt fort, „Du kannst uns gerne schon einschenken, dann richte ich das Essen an."

Mit vollem Bauch machen wir es uns auf dem Sofa gemütlich, ich lasse meinen Blick durch ihre Wohnung wandern und bewundere, wie sich ihr Stil durch die ganze Wohnung zieht. Wenn mir jemand drei verschiedene Wohnungen zeigen würde und diese wäre eine davon, wüsste ich sofort, dass diese zu Natalie gehört. Überall stehen Kleinigkeiten, es ist nicht zu viel und doch mehr als der Durchschnitt besitzt. Eine Wand ist voller Postkarten, Urlaubskarten, aber auch genug aus Restaurants und Bars. Auf dem Boden, den Fensterbänken und selbst an den Wänden sind unendlich viele Pflanzen zu finden. Von einer gigantischen Monstera, zu einem winzigen Kaktus, den sie selbst gezogen hat. Alte Möbel setzen Akzente in ihrer Wohnung, Fotografien in alten Bilderrahmen komplettieren den Stil. Ich atme tief ein und sage: „Deine Wohnung ist so schön, dagegen ist unsere ein Graus. Ich sehe all eure Wohnungen und fühle mich in meiner eigenen immer unwohler." Natalie lässt ihren Blick schweifen, fährt mit ihrem Finger am Stil ihres Glases entlang und murmelt: „Das war aber auch wirklich viel Arbeit und hat lange Zeit gedauert, bis sich eine Thematik rauskristallisiert hat. Fang doch damit an, zumindest ein Zimmer so einzurichten, wie du es dir vorstellest." „Sebastian möchte das nicht", bringe ich über die Lippen und es fühlt sich lächerlich an, diese Worte auszusprechen und doch hinterlassen sie einen faden Nachgeschmack. Es kommt mir ein wenig vor wie Verrat. Natalie sieht mich mit einem undefinierbaren Blick an, sie scheint über ihre nächsten Worte sorgfältig nachzudenken, dann erklärt sie: „Und das hält dich davon ab? Es ist auch deine Wohnung und du solltest dich wohlfühlen, wo du wohnst." „Wir haben endlich einen neuen Kleiderschrank, der nur in unserer Wohnung steht, weil Vivien mit mir losgefahren ist... Sebastian mochte ihn eigentlich nicht so gerne, aber da wir wieder gestritten haben, hatte er sich dazu hinreißen lassen. Wir wollten streichen, das habe ich jetzt allein erledigt, weil er immer was anderes zu tun hat... Ich habe auch ein paar Bilder aufgehangen damit es wohnlicher wird, sie waren fast alle von unserer letzten Reise, also mit einer besonderen Bedeutung. Sebastian hat mich gebeten sie abzuhängen, die würden ihn stören", es schmeckt bitter auf der Zunge, mein Herz ist schwer und meine Gedanken sind träge, aber es endlich jemanden anzuvertrauen, fühlt sich gut an. Mit Elaine habe ich diese Dinge nicht besprochen, sie ist noch zu sehr auf Wolke 7 und das möchte ich ihr nicht nehmen. Zudem versteht sie nicht, warum ich nicht das möchte, was Sebastian will, doch das ist eine Thematik, die ich jetzt nicht ansprechen will. „Lou", Natalie drückt meine Hand, „Du bist eine erwachsene Frau, bitte lass dich nicht so von deinem Freund behandeln. Wenn du die Bilder dort hängen haben willst, lass sie hängen. Wenn du Blumen aufstellen willst, tu es. Es ist schade, dass er keinerlei Interesse an der Wohnung zeigt, redet er noch immer davon, dass er lieber nach einem Haus schauen würde?" „Und das ist nicht, was ich möchte", ist alles, was ich sage, es auszusprechen, anstatt es immer nur zu denken, ist merkwürdig. Meine Zunge fühlt sich schwer an und ich schlucke, Natalie scheint zu verstehen und lenkt uns auf seichtere Gewässer: „Und was ist mit dem Spiegel für den Flur den du entdeckt hast? Wir könnten am Wochenende hinfahren und ihn abholen?" Ich überlege kurz, erinnere mich daran, dass Vivien dasselbe zu mir gesagt hat und erkläre: „Vivien und ich wollte eigentlich ins Möbelhaus, aber ich weiß nicht, ob wir das wirklich tun." „Warum nicht?", fragt Natalie und reicht mir die Schüssel mit Chips, „Geh ruhig mit ihr, ich wollte mich nicht aufdrängen. Ihr macht mittlerweile recht viel miteinander, oder?" Ich presse leicht die Lippen aufeinander und halte mich davor zurück, vorschnell zu antworten.  „Ich weiß nicht", sage ich zögerlich, „Ihre Mutter ist aktuell im Krankenhaus und nach der Übernachtung haben wir nicht mehr viel miteinander gesprochen. Ich denke bei ihr passiert gerade zu viel." Ich registriere, wie Natalie mich betrachtet, denke mir aber nichts weiter dabei und als sie das Gespräch fortführt, beginnt mein Herz kräftig zu schlagen: „Ich habe das Gefühl, dass sie genau die richtige Person ist, um mit dir Möbel zu kaufen. Nach der Übernachtung hast du so ausgeglichen gewirkt. Sie scheint ein guter Mensch zu sein, jemand, der dir guttut. Vielleicht schwirrt ihr gerade der Kopf, aber ein wenig Ablenkung würde ihr bestimmt gefallen."

Ich weiß nicht, was ich mit der Aufregung in meinem Körper anfangen soll, verstehe nicht, wieso der Gedanke an Vivien mich nervös werden lässt, aber erneut mit ihr ins Möbelhaus zu gehen, stimmt mich freudig. Versunken in meinen eigenen Gedanken, vergesse ich Natalie zu antworten, die wissend grinst. Ich erwache aus meiner Trance und frage: „Warum grinst du denn so?" Natalie verschränkt die Arme, atmet aus und sagt: „Nun, ich möchte dir nicht zunahe treten. Du wirst es schon selbst verstehen." Ihre Worte hallen in meinem Innersten nach und auch Tage später werde ich mich noch immer fragen, was sie damit eigentlich gemeint hat.

Vom Flieder so bunt (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt