Kapitel 22

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Atemlos sitzen wir voreinander, meine Stirn ruht an ihrer und ich versinke in ihren wunderschönen, grünen Augen. Mein Herz schlägt mir noch immer bis zum Hals, ich bin euphorisch, möchte meine Freude herausschreien, Vivien nie wieder loslassen. „Endlich, hm?", ich platziere einen vorsichtigen Kuss auf ihren geschwollenen Lippen und als sie lächelt, küsse ich beide Mundwinkel. „Ja, endlich", ihr Daumen fährt über meinen Kiefer und Vivien zieht mich mit einer sanften Bewegung noch ein Stück näher, „Ich habe mich immer gefragt, wie du wohl schmeckst, wie du küsst. Und jetzt kann ich es nicht einmal in Worte fassen, weil es einfach so unglaublich ist." „Spinner", raune ich ihr entgegen und küsse sie sanft, „Obwohl ich zugeben muss, mich dasselbe gefragt zu haben. Dich zu schmecken, dich küssen zu dürfen, habe ich mir nicht mal im Traum so schön vorgestellt." Meine Wangen schmerzen bereits vom Grinsen, welches auf meinem Gesicht thront, aber es wird noch breiter als sie verlegen zur Seite schaut. „Schau nicht weg", wispere ich und lege meine Lippen auf ihre. Der Kuss ist zögerlich, sanft, liebevoll und doch auch etwas ängstlich. Die Angst vor Zurückweisung, aus einem Traum zu erwachen, der niemals enden soll, nagt an uns. Ich spüre ihre Finger über meine Kopfhaut streichen, den leichten Biss in meine Unterlippe, das nervöse Ziehen an meiner Schulter. Ich genieße jede Sekunde, jede Berührung und Emotion, die mich durchströmt. Spüre wie mein Herz schneller schlägt, das innere Vibrieren zunimmt und mich vollends einnimmt. Ich kann es nicht in Worte fassen, was mit mir geschieht, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen. So etwas habe ich nie zuvor gespürt. Nicht mal ansatzweise. Ich weiß nicht wie es Vivien geht. Wie sie empfindet, ob es sie genauso überwältigt wie mich, doch wenn ich von ihren körperlichen Reaktionen ausgehe, scheint sie es genauso sehr zu genießen wie ich. Wir lösen uns fast schon widerwillig voneinander und ich vermisse ihre Lippen bereits in dem Moment, wo sie meine verlassen. „Wir sollten zurück, oder?", fragt mich Vivien und nimmt meine Hand in ihre, „Auch wenn ich hier ewig mit dir bleiben könnte." „Wenn du deine Gäste nicht allein lassen willst, ja", erwidere ich und streiche sanft über ihren Handrücken, „Sie fragen sich bestimmt schon, wo du bleibst. Wir sind bereits eine Weile weg." Seufzend drückt sie meine Hand und blickt mir tief in die Augen. Ich winde mich unter ihrem Blick, der so intensiv, so pur ist, dass es mir eine Gänsehaut beschert. Sie sieht mich anders an als noch vor ein paar Tagen, die Gefühle sichtbar, wie ein Blick in ihre Seele. Ein verräterisches Funkeln, ein Glanz wie der spiegelnde Mond auf der Meeresoberfläche. Augen in denen ich mich verlieren könnte. Jetzt und für immer. „Dann mal los, hm", Vivien zieht mich an sich, haucht einen Kuss auf meine Lippen und zieht mich dann zur Tür, „Der Zauber wird nicht verschwinden, wenn wir diese Hütte verlassen, oder?" „Nicht, wenn du es nicht möchtest", antworte ich und schließe die Tür hinter mir, „Ich möchte nicht, dass es nur eine Erinnerung ist..." „Ich auch nicht", wir gehen den Kiesweg entlang, halten Händchen und genießen die Nähe des anderen, erst nach einer Weile redet Vivien weiter, „Aber du verstehst, dass wir gleich nicht so rumlaufen können, oder?" Es ist ein kleiner, aber feiner Stich ins Herz, dennoch weiß ich genau, was sie meint. „Natürlich", grummelnd küsse ich ihre Hand, „Deshalb koste ich es jetzt noch einmal aus, wenn das okay ist." Sie kann nur noch quietschen, da habe ich sie bereits herumgewirbelt und in einen leidenschaftlichen Kuss verwickelt.

Meine Lippen fühlen sich geschwollen an als ich an meinem Wein nippe. Ich suche mir meinen Weg zum Balkon und entdecke wenig später meine beste Freundin und ihren Verlobten am Geländer lehnend. „Du warst aber lange weg", Elaine mustert mich von oben bis unten und ich spüre genau, wie ihre Augen ein wenig zu lang auf meinen Lippen ruhen. Nervös verstecke ich mich hinter meinem Glas, fahre mir mit der Zunge über die Lippen und verfluche mich, nicht einen Blick in den Spiegel geworfen zu haben. „Du hast da was, ich glaube du solltest mal einen Blick in den Spiegel werfen", kichert Elaine und ich werfe ihr einen strafenden Blick zu, „Ich begleite dich." Ben steht planlos neben uns, weiß gar nicht was gerade vor sich geht, da zieht Elaine mich bereits Richtung Bad. „Das ist nicht nötig", raune ich ihr noch zu, aber sie schüttelt energisch den Kopf und ignoriert meine Bitte mich in Ruhe zu lassen. Wir bahnen uns den Weg zum Badezimmer und wir haben kaum die Tür geschlossen, da löchert sie mich mit Fragen: „Ihr habt euch geküsst, oder? Wie aufregend! Aber Oliver?! Oh Gott, Oliver." Ich lehne mich gegen das Waschbecken und betrachte meinen verschmierten Lippenstift. In aller Ruhe greife ich nach einem Kosmetiktuch, befeuchte es und reinige mein Gesicht. Ich verwische den Lippenstift nur noch mehr und sehe wenig später, wie ein Clown aus, was mich zum Lachen bringt. Elaine stimmt mit ein, eilt mir aber wenig später zur Hilfe, sodass ich schnell wieder aussehe als wäre nichts passiert. Ich lege neuen Lippenstift nach, verschränke die Arme und schenke meiner besten Freundin einen langen Blick. Ihr Kopf ist zur Seite geneigt, sie wartet noch immer auf meine Erklärung, drängt mich aber nicht zu sprechen, wenn ich es nicht will. „Wir haben uns geküsst", erzähle ich, während ich meine Utensilien zurück in die kleine Handtasche presse, „Und es war unglaublich... Sowas habe ich noch nie bei einem Kuss gefühlt... Ich..." Ich halte inne, atme tief ein und drehe mich zurück zu meiner besten Freundin. Sie sieht erfreut aus als hätte sie geahnt, wie gut sich der Kuss zwischen mir und Vivien anfühlen würde. Geistesabwesend fahre ich mir über die Lippen, was mir einen strafenden Blick von Elaine einbringt, sie schüttelt den Kopf und schimpft: „Das haben wir gerade erst gerichtet, hör auf so verträumt über deine Lippen zu streichen. Vermutlich wird die neue Schicht auch nicht lange halten, hm?" Beschämt schaue ich zur Seite, lache verlegen und sage: „Diese Schicht wird halten, versprochen. Es wird nichts mehr passieren, zumindest nicht heute." „Huh, okay? War es eine einmalige Sache, oder wie soll ich das verstehen?", hakt sie nach und Sorgenfalten zeichnen sich auf ihrer Stirn ab. Vergessen scheint Oliver und ihr vorheriger Schock darüber, dass Vivien ihren Verlobten eventuell betrogen hat. „Ich glaube nicht, ich hoffe es... Also ich denke nicht", mit leicht zitternden Fingern fahre ich mir durch die Haare, sammle mich kurz und setze nach, „Es ist so, Oliver und sie haben beschlossen eine Pause einzulegen. Sie sind nicht ganz getrennt, aber vielleicht auch doch... und sie wollte den Kuss genauso sehr wie ich. Sie hatte selbst Angst, dass es eine einmalige Sache ist, aber sie hat auch direkt klargemacht, dass hier nichts passieren wird." „Uff", raunt Elaine und schlingt einen Arm um mich, „Das klingt schwer, aber du darfst nicht vergessen, die beiden sind verlobt und machen jetzt eine Pause. Sehen sie es wie eine Trennung an, du weißt nicht, wie die Handhabung dahinter ist. Vivien kann nicht hier auf ihrer Party mit einer Frau rummachen. Versteh mich bitte nicht falsch, ich denke sie würde gerne, aber niemand kennt eure Geschichte, alle kennen sie nur mit Oliver. Ich glaube, das würde einen Eindruck vermitteln, den sie nicht will und das Bild, was sie sich daraus ziehen, wäre einfach nur falsch. Weißt du, was ich meine?" „Ich weiß", nüchtern zucke ich mit den Schultern, „Sie gibt so viel auf und ich bin auch noch miesepetrig." Elaine zwickt mich in den Arm: „So würde ich es nicht nennen, ich kann verstehen, woher es kommt. Doch du musst Viviens Mut anerkennen, diesen Weg zu gehen, ist kein leichter. Für dich war es etwas einfacher, weil Sebastian so viel verbockt hat. Aber die beiden sind immer voller Harmonie gewesen, zumindest oberflächlich gesehen. Ich will nicht über die Beziehung der beiden urteilen, dafür weiß ich zu wenig. Vivien ist verdammt mutig und riskiert viel, ihr den Vortritt zu lassen, in welchem Tempo all das geschieht, ist nur fair. Solange ihr beide miteinander gut umgeht und es für euch okay ist." „Was würde ich nur ohne dich tun?!", frage ich Elaine und lege meinen Kopf auf ihrer Schulter ab, „Ich bin echt doof, was?" „Manchmal", ärgert sie mich und ich schlage ihr spielerisch auf den Unterarm. „Wie ungezogen von dir", ich schürze die Lippe, richte mich auf und murmle, „Aber du hast Recht. Immerhin hat sie mir ihre Gefühle gestanden, wir haben uns geküsst... Was will ich eigentlich mehr? Ich Idiot. Lass uns wieder rausgehen!"

Die Party ist in vollem Gange, die Menschen werden ausgelassener, feiern die Klänge der Musik, das Leben, die Liebe. Wir stoßen auf Vivien an, die eine kleine Rede hält und sich für das Kommen der Gäste bedankt. Ich halte das Glas in die Höhe als ihr Blick nach mir sucht, sie macht es mir nach und wir nippen beide an unserem Getränk. Ich traue mich nicht zu ihr zu gehen, weil ich nicht weiß, wie ich mit ihr umgehen soll. Die Situation ist neu, unvertraut und doch aufregend, mit starkem Herzklopfen verbunden. Elaines Hand schiebt mich ein Stück vor, stolpernd mache ich ein paar Schritte auf Vivien zu, die mir ein zartes Lächeln schenkt. „Hey", schüchtern schiebe ich mir eine Strähne hinters Ohr und halte genug Abstand zu ihr. „Hi", erwidert sie und schlägt die Augen nieder, „Du auch hier, hm?" „Hm", summe ich und nicke, „Wurde eingeladen, nett, oder?" „Sehr nett und ganz ohne Eigennutz, was?", Vivien zwinkert mir zu und meine Beine werden weich. „Ist das so?", frage ich mit gespieltem Schock in der Stimme. Vivien greift nach meiner Hand, eine Berührung, mit der ich nicht gerechnet habe und zieht mich ins Wohnzimmer. Auch hier ist es voll, es gibt keine Zweisamkeit, dennoch lässt sie meine Hand nicht los. „Schau dir das mal an, gefällt es dir?", sie deutet auf einen Bilderrahmen, der zwischen einer Schar weiterer Rahmen und Blumen steht, „Das Bild hat mir meine Mutter geschenkt." Es ist ein Bild von Vivien und ihrem Vater, sie lachen aus vollem Halse, hinter ihnen glitzert das Meer. „Ich kannte das Bild nicht", erzählt sie weiter, „Sie sagt, sie habe es hinter dem Schrank gefunden, es muss dahinter gerutscht sein. Es ist ein komisches Gefühl uns anzusehen und keinerlei Erinnerung daran zu haben. Ihn und die Erinnerung einfach vergessen zu haben." „Weißt du", erwidere ich, „Kinderbilder sind meist nur eine Erinnerung an das Bild und nicht an die damalige Situation. Deshalb musst du dir keinen Kopf machen, du hast nichts vergessen in dem Sinne." „Oh", entfährt es ihr und sie drückt meine Hand, „Das wusste ich nicht..." „Na, jetzt weißt du es ja. Ein sehr schönes Bild", ich beuge mich etwas vor, um es mir genauer ansehen zu können, „Du hast ein wirklich ansteckendes Lächeln." Aus dem Augenwinkel nehme ich die leichte Röte auf ihren Wangen wahr und winde mich innerlich, sie nicht einfach an mich zu ziehen. „Wieso weißt du immer genau was du sagen sollst?", Vivien tritt etwas näher an mich heran, sodass sich unsere Oberarme berühren, „Egal in welcher Situation wir sind, du findest immer die richtigen Worte." „Weil ich dir gerade ein Kompliment gemacht habe? Das könnte ich immer und durchgehend", achselzuckend sehe ich sie an, „Und ansonsten sage ich einfach das, was mir auf den Lippen liegt. Ich versuche mich in dich hineinzuversetzen, das zu sagen, was der Situation angemessen ist. Bei dir ist es einfach nicht schwer... Du interessierst mich sehr, Vivien. Was du magst, was dich beschäftigt, wer du bist. Was dich belastet, erfreut, einfach alles." Viviens Griff wird noch ein wenig fester, dann haucht sie in mein Ohr: „Komm mit."

Wir stolpern in ihr dunkles Schlafzimmer, wo sie ihren Körper gegen meinen drückt und uns so an die Wand befördert. Sie streicht mir liebevoll an der Wange entlang und wispert: „Einen Kuss muss ich mir noch klauen. Einen Kuss für deine Worte und dafür, dass du so unverschämt gut aussiehst in diesem Kleid."

Vom Flieder so bunt (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt