1. vor meinem Fenster

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„Kann ich ihn streicheln? Bitte, biiiieeettteeee!", erklang es durch mein gekipptes Fenster, während ich mit meinem Laptop bewaffnet auf dem Sofa lümmelte und frustriert schmollend auf das leere Dokument vor mir starrte. „Er ist so süß und so flauschig und ich möchte ihn unbedingt anfassen!", machte eine helle Stimme, wohl die eines noch sehr kleinen Mädchens enthusiastisch weiter.

„Psst ... nicht so laut. Und nein, du darfst sie nicht streicheln. Sie gehören schließlich nicht uns", vernahm ich eine weitere, durch und durch dunkle Stimme, die mir entfernt bekannt vorkam. Müde schloss ich die Augen und versuchte mich erneut auf meine Arbeit zu konzentrieren. Es war schon später Nachmittag und meinem Ziel, dieses gottverdammte Kapitel fertig zu bekommen, war ich keinen Schritt weiter gekommen. Schlichte, gähnende Leere verspottete mich bereits seit Stunden. Wenn es so weiter lief, würde ich es meinem Protagonisten gleich tun und mich einfach halber erhängen. Nur käme mir kein hübscher Polizist zur Hilfe, um mich in letzter Sekunde zu retten.

„Du bist so gemein!" Wurde auch dieser Versuch, mich aufs Schreiben zu konzentrieren, zerstört, indem das Mädchen vor meinem Fenster sichtlich wütend und enttäuscht aufschrie: „Nie darf ich was, wenn ich bei dir bin. Ich will hier weg, ich will wieder zu meiner Mama!", kam es deutlich weinerlich hinzu, die Stimmung schien zu kippen. Seufzend schloss ich den Laptop, immerhin war es mit meiner Konzentration sowieso schon dahin, stellte ihn auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa ab und erhob mich, um aus dem Fenster zu sehen, wovor es mittlerweile verdächtig leise geworden war. Ob die beiden sich wohl bereits verzogen hatten?

Nach ein paar wenigen Schritten hatte ich das Fenster erreicht und schielte unauffällig durch die dichten, dunkelblauen Vorhänge, nach draußen, die sonst dafür da waren, das Tageslicht und die Menschheit vor dem Fenster hinaus zusperren, um in Ruhe arbeiten zu können. Oder wie heute, lediglich so zu tun.

Zu meiner Überraschung waren die beiden Fremden nicht verschwunden. Stattdessen saß ein kleines Mädchen, mit wilden, abstehenden, blonden Zöpfen und einem Kleidchen auf dem Bürgersteig vor meinem Zaun und hatte die Arme vor ihrer Brust verschränkt. Sichtlich bockend. Neben ihr hingegen stand ein hochgewachsener Kerl. Dunkelhaarig, perfekt gestylt, in Anzug, plus knielangem melierten Mantel und fuhr sich grade durch das fein nach hinten frisierte Haar. Sichtlich verzweifelt.

Amüsiert zuckte mein Mundwinkel nach oben und obwohl ich eigentlich arbeiten sollte, müsste, traf es wohl noch etwas besser, setzte ich mich erneut in Bewegung und lief hinüber zur Haustür, um nach draußen zu treten. Immerhin war ich wohl indirekt schuld an dieser dramatischen Szene, die sich gerade vor meinem Garten abspielte. Oder zumindest meine zwei zuckersüßen Zwerg Angoras.

„Ronja, bitte! Wir müssen los!", zischte die dunkle Stimme, kaum, dass ich die Haustür geöffnet hatte. „Du weißt doch, ich muss noch zur Arbeit", machte der Kerl weiter, den ich ganz eindeutig, als meinen neuen Nachbarn erkannte.

Wie lange war es her, dass er mit einem Trupp von Umzugshelfern in das seit Jahren leerstehende Haus nebenan gezogen war? Drei oder vier Monate? Nein, es musste schon länger her gewesen sein, immerhin herrschte damals noch Hitze, und er hatte lediglich Shorts und ein enges Tanktop getragen. Jetzt hingegen hatten wir wieder Frühling. In wenigen Tagen stand sogar Ostern an.

„NEIN!", bekam er zur Antwort und irgendwas sagte mir, dass sich dieses kleine, sture Mädchen nicht umstimmen lassen würde.
„Doch. Und zwar sofort!", befahl der junge Mann, dessen Namen ich nicht einmal kannte und machte einen Schritt auf das Kind zu. Augenblicklich wirbelte sie herum, legte sich gänzlich auf den Boden und fing an, laut zu schreien, während ihre Fäuste unaufhörlich auf den geteerten Untergrund hämmerten. Scheinbar in Schockstarre blickte mein Nachbar auf das Kind, definitiv nicht wissend, wie er reagieren sollte.

Diese Situation nicht länger ertragend, lief ich die zwei Stufen vor meiner Haustür hinab, den kleinen, schmalen Weg entlang zum Gartentor und umrundete den Mann, der mit dem Rücken zu mir stand, um vor dem immer noch brüllenden Mädchen in die Hocke zu gehen.

„Hey", begrüßte ich sie und stupste sie gleich mal in die Nase, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Augenblicklich blickten mich riesige blaue Augen an, worin ein ganzes Meer an Krokodilstränen schwamm und regelmäßig überging. „Weißt du, Keks und Krümel bekommen Angst, wenn es so laut ist. Schau mal, sie verstecken sich schon" Und tatsächlich, wie scheinbar auf einen imaginären Knopf gedrückt, hörte das laute Schreien sofort auf, während das Mädchen sich nach meinen beiden Kaninchen umsah, die sich ungelogen in ihrem Häuschen verschanzt hatten.

„Oh ...", machte die Kleine und erneut schienen ihre Augen kurz vor dem Übergehen. „Schau mal, wenn wir jetzt leise sind und kurz warten, kommen sie bestimmt gleich wieder raus", versicherte ich sogleich, um der nächsten Katastrophe zu entgehen. „Sie mögen kleine Kinder nämlich besonders gerne", setzte ich hinterher und lächelte ihr aufmunternd zu. „Schau. Keks spitzt sein Näschen schon wieder zum Häuschen hinaus." Und während ich so sprach, kamen nacheinander meine beiden Häschen, angelockt von meiner Stimme, heraus. Keine Sekunde später drückten sich zwei Näschen an den Zaun und versuchten, zu mir zu kommen.

„Die sind so süß ...", flüsterte das Mädchen plötzlich ehrfürchtig und erhob sich vom Boden, um neben mir in die Hocke zu gehen und ebenfalls, mir gleich, ihre Hand nach den Häschen auszustrecken.

„Hmm ... stimmt", gab ich ihr recht.

„Du hast keine Schuhe an", stellte sie wie beiläufig fest und grinste mir schüchtern zu. „Ja, ich weiß. Sollte man nicht machen", gab ich ebenfalls grinsend zurück. Und schon war das Eis gebrochen.

Ein Räuspern ertönte hinter uns und gleichzeitig fuhren wir herum. Stimmt ja, den Kerl hatte ich kurzfristig gänzlich vergessen.

„Ich will ja nicht stören, aber wir müssen wirklich los. Komm jetzt, Ronja." Tat er erneut das gänzlich Falsche und wunderte sich im selben Moment, dass die Lippe des Mädchens anfing zu beben. Wo er wohl seinen ‚Vater-Schein' gemacht hatte? Wie konnte man sein Kind nur so wenig kennen? Oder überhaupt Kinder im Allgemeinen? Viel zu tun hatte er wohl nicht mit ihr gehabt, das würde auch erklären, warum ich zum ersten Mal ein Kind bei ihm sah. Also nicht, dass ich ihm nachspionieren würde oder so. Aber bei einem direkten Nachbarn, hätte man doch mitbekommen, ob er ein Vater wäre. Ich war fälschlicherweise davon ausgegangen, dass er Single war. Und dem regelmäßigen, wechselnden Herrenbesuch anzunehmen, sogar ein klein wenig, dass er schwul war. Aber so konnte man sich täuschen.

„Ich will nicht!", kassierte er sogleich und erneut verschränkte die Kleine ihre Arme vor der Brust. „Du bist gemein. Immer müssen wir das tun, was du willst. Nie das, was ich will! Ich bleibe hier, bei Keks und ...", sie stockte, schien zu überlegen. „Krümel", half ich aus und blickte von ihr zu ihrem Papa und wieder zurück. Dieser presste gerade seine Lippen zu einem feinen Strich aufeinander und schien innerlich zu zählen, dann blickte er auf seine teuer aussehende Armbanduhr, nur um noch verzweifelter zu werden.

„Wie wäre es, wenn ihr Keks und Krümel morgen besucht, wenn ihr da Zeit habt? Dann können wir sie herausholen und du kannst sie streicheln", versuchte ich nun für alle Parteien eine Lösung zu finden, was in erster Linie daran lag, dass ich Kinder einfach nicht weinen sehen konnte. Zu oft war ich selbst als Kind enttäuscht worden, von einem Vater, bei dem die Arbeit an erster Stelle stand. Heute noch.

Schweigen breitete sich aus und die beiden schienen sich in einem Anstarrwettbewerb gegenüberzustehen. Dann, als hätte der Mann vor mir verstanden, dass er verloren hatte, schloss er kurz die Augen, atmete tief durch und blickte indessen seinerseits von mir zu dem Mädchen und wieder zurück.

„Okay." Mehr bedurfte es nicht, schon sprang die Kleine quietschend vor Freude auf und lief hinüber zu ihm. Fiel ihm um die Taille und drückte ihr Gesicht fest an seinen Anzug. Mit dieser Situation erneut völlig überfordert, tätschelte dieser lediglich ihre Schulter.
Mir ein Augenrollen verkneifend, erhob auch ich mich aus der Hocke und steckte die Hände tief in die Taschen.

„Ich bin morgen den ganzen Tag zu Hause, kommt vorbei und läutet einfach", sagte ich schlicht und machte mich auf den Weg zurück zur Haustür. Für Anfang April war er tatsächlich noch zu kalt, um nur in Socken auf dem Gehsteig zu stehen.

Sweet EasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt