Es dauerte genau eine geschlagene Sekunde, bis mir bewusst wurde, was ich hier gerade tat. Erschrocken über mich selbst rückte ich ruckartig ab von ihm. Großer Gott, was war nur in mich gefahren?
„Emm ... Sorry ... aber ich muss dringend nach Hause!", murmelte ich geistesabwesend, während das Chaos in meinem Inneren überhand gewann, ich vom Sofa aufsprang und wie ein feiger Hund davon laufen wollte.
„Ian ..." Seine Stimme klang ruhig, aber bestimmt, völlig entgegengesetzt dem, was ich selbst fühlte. Dennoch konnte ich mich nicht zu ihm umdrehen. Geschweige denn, ihm ins Gesicht, in die Augen zu sehen. Ich wollte nur mehr weg.
„Du bist zu Hause", setzte er sanfter hinzu. Erhob sich ebenfalls, was ich am Knarzen des Sofas hörte. „Alles gut, ich werde nach Hause gehen." Klang er traurig? Hatte ich ihn verletzt? Mit Sicherheit. Ohne ein weiteres Wort ging er an mir vorbei und in den Flur hinaus. Wie erstarrt konnte ich ihm lediglich nachstarren.
War ich denn von allen guten Geistern verlassen? Wieso zum Teufel machte ich sowas? Hatten wir uns nicht gerade erst angefangen anzufreunden? Und dann das! Was war nur los mit mir? Sonst hatte ich doch meine Emotionen auch im Griff! Immer! Hatte es früh gelernt. Aber dieser Tage wurde irgendwie alles zu viel. Das Kind, Ella, meine Ma und dann auch noch Colin. Ja, Colin ... Warum auch immer hatte ich mich in seiner Gegenwart nicht unter Kontrolle. Zuerst beanspruchte ich all seine Zeit, dann heulte ich ihm vor und zu guter Letzt küsste ich ihn einfach.
Schwer schluckend stolperte ich einen Schritt zurück und ließ mich auf das Sofa plumpsen. Mein Herz raste, überschlug sich immer noch. Gehetzt. Und irgendwie bekam ich keine Luft mehr. Ich keuchte. Rang nach Atem. Beugte mich vor und presste meine Handflächen gegen mein eiskaltes Gesicht. Ich musste mich beruhigen. Ich musste mich wirklich beruhigen. Einfach nur einatmen. Einatmen und wieder ausatmen. Alles war gut. Alles war ... Scheiße!!! Erneut keuchte ich. Spürte das Brennen in meiner Kehle, meiner Lunge. Fühlte das Zittern in meinem ganzen Körper. Und es schien, als würde die ganze Welt über mir zusammenbrechen.
„Hey ...", vernahm ich wie aus weiter Ferne. „Schau mich an. Ich bin da ...", machte die Stimme weiter. Warme Finger, auf meiner kalten Haut, die für noch mehr Gänsehaut sorgten. Am liebsten hätte ich mich geschüttelt und dennoch wollte ich nicht weg. Wollte die Wärme. Rutschte ihr entgegen. Lauschte der Stimme und atmete. Endlich. Tief. Fest. Erleichtert. Spürte Arme, die sich um mich schlossen. Die mich an ihn zogen, die mich auffingen, mich beschützten und ließ es zu. Ich konnte einfach nicht mehr. Hatte keine Kraft zum Kämpfen. Keinen Halt. Und irgendwie war doch sowieso schon alles viel zu spät. Alles egal. Hatte er all meine schwarzen Seiten gesehen.
„Es tut mir leid ...", flüsterte ich nach einer gefühlten Ewigkeit rau, in der mich Colin schweigend in seiner warmen, sanften und dennoch starken Umarmung festgehalten hatte. „Ich ..."
„Es ist ok", fiel er mir beruhigend ins Wort und streichelte unentwegt meinen Rücken. „Komm, ich bring' dich ins Bett", setzte er liebevoll hinzu. Löste seine Arme um meine Mitte und ich hätte am liebsten frustriert aufgestöhnt. Ich wollte nicht, dass er mich losließ. Dass er mich je wieder losließ. Aber diesen Gedanken schob ich ganz schnell und vor allem ganz, ganz weit bei Seite. Doch statt ganz zu verschwinden, legte er lediglich seine Hände auf die meinen und zog sie so weit runter, dass er mein Gesicht freilegte. Ich konnte ihn immer noch nicht ansehen. Wollte nicht sehen, was ihm ins Gesicht geschrieben stand. Was er in mir sah. Er hielt mich sicherlich für schwach. Für ein Problem, welches sein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Wer wusste es schon, bestimmt hasste er mich mittlerweile. Und doch wollte ich, dass er blieb.
Seine warmen Finger landeten unter meinem Kinn und drückten es hoch. Immer noch hatte ich die Lider fest verschlossen. Wenn ich ihn nicht sah, dann vielleicht ...
„Sein ein braver Junge, und komm ...", hauchte er so leise, dass ich es fast nicht vernommen hätte, und dann plötzlich, landeten warme Lippen federleicht auf meiner Stirn. Überrascht und erschrocken zugleich über diese elektrisierende Empfindung, die mir durch und durch ging, riss ich die Augen auf und blickte in sein verschmitzt lächelndes Gesicht. „Auf geht's!", befahl er, diesmal gespielt, weil ich ihn immer noch verdattert, mit offenem Mund, wie vom Blitz getroffen, anstarrte. „Hopp, hopp! Sonst bekommt Onkel Ian morgen keinen Nachtisch!", setzte er streng hinzu, zwinkerte und lachte selbst aus. Dunkel. Rau. Dass sich in meinem Inneren kurz alles zusammenzog.
Immer noch in völliger Erstarrung, konnte ich ihn nur ansehen. Was machte er nur mit mir? Hatte ich nicht auch so schon genug Probleme? Außerdem, warum brachte mich ein Kuss auf die Stirn, viel mehr aus dem Konzept, als unser richtiger zuvor? Und wann wurde ich überhaupt schon einmal so liebevoll auf die Stirn geküsst? Darin hatte keinerlei Lust oder Erregung gelegen. Kein Hintergedanke, keine Absicht oder gar Berechnung. Lediglich Wärme und Zuneigung. Oh Gott ... Mochte Colin mich? Also richtig mögen? Nicht so, wie man eben einen Nachbarn, einen Freund, mochte. Trotz meiner Probleme? Trotz der ganzen Umstände, die wir ihm in den letzten Tagen bereitet hatten? Oh Mann, ich hoffte es so sehr, dass sich mein Innerstes samt meiner Gedanken überschlug.
Immer noch nicht in der Lage zu sprechen, nickte ich lediglich. Ließ mich anschließend hochziehen und nach dem er mir einen kleinen Schubs in die richtige Richtung verpasst hatte, drehte ich mich nochmal nach ihm um.
Ich wollte nicht, dass er ging. Dementsprechend wollte ich auch nicht ins Bad und anschließend in mein Schlafzimmer. Wo ich wieder alleine, wieder einsam wäre. Wo wieder alles über mir zusammen brechen würde. Mich erdrücken würde. Ich wollte einfach noch ein bisschen schwach sein. Ein bisschen gehalten werden. Bevor ich morgen wieder alle Masken aufsetzte und mich erneut der Welt stellen würde. Aber jetzt grade ging es noch nicht. Und ein kleines bisschen wollte ich niemand anderen als ihn.
„Ich geh' nicht weg. Versprochen", sagte er schlicht, als würde er meine Gedanken lesen und so wie er mich ansah, wie er mich anlächelte, glaubte ich ihm. Also war ich tatsächlich ein braver Junger, machte mich auf den Weg ins Bad, duschte kurz, machte mich bettfertig, und betrat in Boxer und T-Shirt das Wohnzimmer, wo Colin auf dem Sofa saß und wie versprochen auf mich gewartet hatte. All die Zeit hatte ich mir verboten zu denken. Egal an was. An meine Familie. An meine Probleme. An ihn ... Hatte mich lediglich darauf konzentriert, mich fertig zu machen. Aber was nun? Konnte ich ihn bitten, heute Nacht hierzubleiben? Oder war es zu viel verlangt? Natürlich war es zu viel. Eigentlich wusste ich das auch. Aber eigentlich wollte ich immer noch nicht, dass er nicht ging. Dass er wenigstens für heute Nacht bei mir blieb.
„Na komm, bringen wir dich ins Bett", verkündete Colin aufmunternd. Erhob sich vom schwerfällig vom Sofa, kam auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. Ohne zu zögern, griff ich danach und wie zuvor bei Ronja, so führte er auch mich an der Hand in mein Schlafzimmer. Dort angekommen deckte er mich zu und setzte sich zu mir an den Bettrand, wie zu einem kleinen Kind. „Schlaf schön, Ian", hauchte er fast schon. Hob die Hand und strich mir behutsam die Haare aus den Augen. Seine Berührung so sanft, so weich, so warm. Sorgte für ein Kribbeln, eine Hitze, ein so unendlich schönes Gefühl von ‚Ankommen' von ‚zu Hause'.
„Geh nicht!", entschlüpfte es mir, bevor ich es zurückhalten konnte, und augenblicklich hielt er in seiner Bewegung inne. Sein Blick begegnete dem Meinen und mein Herz setzte gleich mal einen Schlag aus. „Bitte", setzte ich in Gedanken hinzu, konnte es aber nicht laut aussprechen. Mich nicht überwinden, ihn anzuflehen. Aber auch so schienen meine Augen wohl Bände zu sprechen, denn ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte lediglich.
Dann machte auch er sich auf ins Bad und eine viertel Stunde später lagen wir nebeneinander im Bett.
„Es tut mir leid", sagte ich in die Stille und in die schützende Dunkelheit hinein. Hatte das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, mich zu rechtfertigen.
„Nichts passiert", erwiderte er schlicht. Und doch wussten wir beide, dass es eine Lüge war. Es war so viel passiert und ich hatte so viele Fehler getan. Nur Fehler, wenn man die letzten Tage genauer betrachtete.
Ein Rascheln ertönte. Dann wurde die Decke etwas angehoben. Dabei tastete er sich vorsichtig zu meiner Seite herüber, landete bei meinem Arm, strich an ihm entlang bis zu meiner Hand und verschränkte seine Finger mit den meinen.
„Alles okay zwischen uns. Wirklich. Außerdem kann jeder einmal einen schlechten Tag haben und wie mir scheint, reihen sich bei dir die schlechten Tage gerade aneinander, wie Perlen an einer Kette."
Lächelnd, auch wenn er es nicht sehen konnte, drückte ich seine Hand und seufzte erleichtert. Irgendwie schien es gerade, als hätte sich ein schwerer Stein von meiner Brust gelöst.
„Du kannst jederzeit mit mir reden. Und ich werde dir jederzeit helfen", versicherte er leise und erwiderte den Druck meiner Finger.
Dann breitete sich wieder Schweigen zwischen uns aus. Kein allzu Erdrückendes. Dennoch wusste ich, er würde nicht expliziter nachfragen und doch wurde ich das Gefühl nicht los, ihm eine Erklärung schuldig zu sein. Oder vielleicht wollte es auch tatsächlich ein Teil von mir schlicht loswerden? Aber eigentlich war der Grund schlichtweg egal. Wichtig war nur, dass die Worte rausmussten. Und dass ich diesem Verlangen nachgab.
„Das Verhältnis in meiner Familie war schon immer sehr angespannt ...", fing ich leise an zu erzählen.
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Sweet Easter
Roman d'amourKleine Oster-Kurzgeschichte, die sich langsam zu etwas Längerem entwickelt ... Ein junger Anwalt mit Leib und Seele, kurz vor einer wahnsinnig wichtigen Beförderung, die er auf keinen Fall vergeigen darf, versinkt in Stress und Überstunden. Und als...