20. Ian - Besuch

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„Emm ...", machte ich, aus Ermangelung an einem guten Konter, während Colin neben mir sichtlich sein Lachen unterdrücken musste. Dieser Verräter!
„Weißt du, ich will Colin ja gar nicht heiraten", setzte ich schulterzuckend hinterher und versuchte dabei meine, allerliebste Nichte vorsichtig anzulächeln. Doch nichts da. Ihr Gesicht verfinsterte sich noch mehr, dann wandte sie sich auf dem Absatz um und stampfte zurück zum Spielplatz. Mich keines Blickes mehr würdigend.

„So, so ... küssen willst du mich, aber nicht heiraten?", ertönte es spottend, wenn auch eher belustigt. Daraufhin erhob sich Colin und lief der Kleinen nach. Statt den beiden nachzurennen, ließ ich die beiden einfach ziehen und beobachtete sie aus der Ferne.

Ronja hatte sich auf eine der Schaukeln gesetzt und Colin tat es ihr gleich. So schaukelten sie sehr gemächlich nebeneinander hin und her und schienen sich zu unterhalten. Da ich nichts hörte, verselbstständigten sich meine Gedanken und ich schweifte ab. Zu der Nacht, zu unserem Gespräch und letzten Endes zu unserem Kuss. Er hat sich gut angefühlt, hat sich nach mehr angefühlt und gleichzeitig hätte ich alles dafür gegeben, etwas mehr Freiraum mit ihm zu haben. Mehr Zeit, nur für ihn alleine. Damit wir uns besser kennenlernen, uns einfach näher kommen konnten. Doch dies wäre wohl, solange Ronja bei mir war, nicht wirklich denkbar. Immerhin stand der General immer zur rechten Zeit auf der Fußmatte.

„Na, du?", riss Colin mich aus meinen Gedanken und ich hob überrascht das Gesicht, nur um ihn und Ronja vor mir zu entdecken. Wann waren die den wieder zurückgekommen?
„Na, ihr?", erwiderte ich und alleine sein Anblick zauberte ein Lächeln auf meine Lippen. Ja, für Rückzug oder einfach vorbei schweifen lassen, war es definitiv zu spät. Ich mochte ihn wirklich. Sehr sogar. Und überraschenderweise machte es mir deutlich weniger Angst, als ich erwartet hatte. Fast so, als wäre der Druck, der mich bis dato noch vereinnahmt hatte, mit dem Kuss verschwunden. Als wäre die Entscheidung alleine, das Problem gewesen und jetzt, wo für mich selbst feststand, dass ich es unbedingt mit ihm probieren würde, fühlte ich mich erleichtert und glücklich zugleich. Vielleicht, ja vielleicht würde sich tatsächlich etwas Ernstes zwischen uns entwickeln. Denn auch wenn ich meine Arbeit liebte und sie mir nach wie vor Spaß machte, füllte sie mich dennoch nicht mehr so aus, wie die Jahre zu vor. Ich hatte eher das Gefühl, dass mit jedem Jahr, das ins Land zog, die Einsamkeit wuchs und auch der ganze Erfolg nicht darüber hinwegtrösten konnte.

Was auch immer Colin mit Ronja besprochen hatte, es schien Wunder zu wirken. Sie war wieder fröhlich und ausgeglichen und selbst ich wurde nicht mehr mit mordenden Blicken gestraft. So räumten wir unsere Sachen zusammen und machten uns auf den Weg nach Hause, wo wir Colin dabei helfen wollten, den Osterbrunch für morgen vorzubereiten. Immerhin würde endlich seine Schwester mit den Zwillingen ankommen.

Ob ich nervös war, seine Familie kennenzulernen? Definitiv! Ich hatte seine Schwester zwar bereits bei dem ein oder anderen Videochat gesehen und sogar kurz einmal ein paar Worte mit ihr gewechselt, aber das war dennoch was anderes, als sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Zumal man sich ja normalerweise erstmal an der Beziehung versuchte und dann erst der Familie vorgestellt wurde. Aber bei uns schien wohl absolut gar nicht zu laufen, wie es normal lief. Deswegen ja, ich hatte Muffensausen.

Was, wenn sie mich nicht mochte? Was, wenn sie unsere Beziehung nicht guthieß? Selbst ich würde immer noch alles für meine Schwester tun, und wir hatten, wie allseits bekannt, kein allzu gutes Verhältnis mehr. Aber wie sah es da bei Colin aus? Die beiden liebten sich. Sie waren ein Herz und eine Seele. Und sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Also ja, was, wenn sie fand, ich wäre nicht gut genug für ihren Bruder? Dass sie sich heute Vormittag ständig nach Toni erkundigt hatte, stärkte ebenfalls nicht grade mein Selbstbewusstsein.

„Was ist los mit dir? Du bist so still", riss mich Colin erneut aus den Gedanken. Wir waren gerade in unsere Straße eingebogen. Doch statt zu antworten, starrte ich nur mehr auf den Kombi, der in seiner Hofeinfahrt parkte.
„Emm ...", entkam es mir und ich deutete etwas irritiert aus dem Fenster und das Auto, das immer näher kam. Colin folgte meinem Blick und aus dem Seitenwinkel bekam ich gerade noch mit, wie ein Strahlen sein Gesicht eroberte. Ich hingegen hoffte lediglich, dass es nicht ein neuer Surferboy war, der mir meinen Colin streitig machen wollte.

Doch weit gefehlt. Kaum, dass wir parkten, öffnete sich die Haustür und zwei Kinder stürmten die Treppe hinab und auf uns zu. Gefolgt von einer hübschen Braunhaarigen im mittleren Alter. Gehüllt in Jeans und buntem T-Shirt blieb sie oben auf den Stufen stehen und winkte grinsend zu uns rüber. Auch ohne zu wissen, dass dies wohl Colins Schwester war, war die Ähnlichkeit nicht zu verkennen. Größe und Statur stimmten überein, aber auch die weichen Gesichtszüge glichen sich. Dazu das dunkle Haar und die dunkeln Augen. Sie hätten Zwillinge sein können, wenn seine Schwester nicht etwas älter ausgesehen hätte.

„Ich dachte, die kommen morgen ...", murmelte ich mehr zu mir selbst, als zu ihm, da riss er schon die Tür auf, und lief auf die vor Freude auf quietschenden Kinder zu. Und ich? Ich schob Panik, war nicht wirklich bereit. Hatte gedacht, dass ich noch etwas Zeit hätte, aber weit gefehlt. Denn nun, nachdem sich die Bande freudig begrüßt hatte, sahen alle erwartungsvoll zu uns.

„Wir sollten aussteigen ...", seufzte ich, und blickte durch den Rückspiegel zu Ronja, die indessen selbst still, was man nicht grade von ihr kannte, durch die Frontscheibe nach vorne sah und das Ganze wie einen Unfall beobachtete.
„Die werden uns Colin schon nicht gänzlich wegnehmen ...", setzte ich beruhigend hinzu und wollte wohl nicht nur sie beruhigen. Von meiner Nichte erntete ich einen eher nichtgläubigen Blick und machte mich ans Aussteigen, bevor es noch unhöflicher wurde. Immerhin wurden wir ja schon erwartungsvoll angestarrt. Also half ich Ronja beim Aussteigen und gemeinsam machten wir uns auf, Colins Verwandte zu begrüßen.

Überraschenderweise war jede Sorge umsonst gewesen, denn wir wurden ohne große Scheu, dafür recht herzlich empfangen. Sowohl die Kinder, Julius und Pia, als auch seine Schwester Marie, schienen uns augenblicklich zu adoptieren und, bis wir uns versahen, halfen wir alle gemeinsam in der Küche für den gemeinsamen morgigen Brunch.

Einige Stunden später, um sich die Wartezeit auf die extra große Familienpizza zu verkürzen, verschwanden die Kinder nach oben zum Spielen. Wir drei blieben alleine zurück, unterhielten uns lachend und machten wieder Klarschiff in der Küche.

„Endlich ist hier mal wieder Action", verkündete Marie plötzlich, ließ sich auf einen der Stühle nieder und prostete mir mit ihrem Bier zu. „Ihr beiden seid genau das, was mein Bruderherz gebraucht hat. Ich hatte schon die Befürchtung, dass er sonst vor Langeweile und Einsamkeit einging, wie meine Zimmerpflanzen. Alle tot!", lachte sie auf und fuhr sich durchs Haar. „Gott, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein schlechtes Gewissen ich hatte, dass wir ihn in letzter Zeit kaum besucht hatten. Aber weißt du, Ralf, mein Mann war die letzten Monate zur Abwechslung mal nur innerhalb Deutschland und Österreich unterwegs, statt wie sonst monatelang um die ganze Welt zu tingeln, da haben wir die Zeit als Familie genossen", fing sie an zu erzählen, kaum, dass Colin die Küche verlassen hatte, um den Häschen ihr Abendessen zu servieren und sie für die Nacht startklar zu machen.

„Ich glaub', wir machen ihm eher nur Probleme und Arbeit", wiegelte ich schwer seufzend ab. Immerhin war da immer dieses schlechte Gewissen, dass ich zu viel von ihm verlangte. Ihm zu viel zumutete. Irgendwann hatte er uns bestimmt satt.
„Ach quatsch! So fröhlich wie in letzter Zeit hab ich ihn schon sehr lange nicht mehr erlebt. Nicht, seit diese kleine Zecke, Toni, einfach auf und davon war."

Sofort war da wieder dieses ungute Gefühl in meinem Bauch. Und auch wenn ich Colin glaubte, so konnte ich diese nagende Eifersucht einfach nicht abstreifen. Doch als schien Marie meine Gedanken erahnt zu haben, sprach sie augenblicklich weiter: „Ach, vergiss Toni. Die beiden hatten nie wirklich zusammen gepasst. Sie waren einfach zu sehr beste Freunde, als ein richtig verliebtes Paar. Ein bisschen kam es mir immer wie eine Zweckgemeinschaft vor. Es war einfach der einfachste Weg für die beiden ..."

„Was erzählst du da schon wieder ...", erklang es von der Tür her und wir sahen uns beide nach Colin um, der so leise wieder in die Küche gekommen war, dass wir ihn nicht gehört hatten.
„Nur die Wahrheit", säuselte seine Schwester zuckersüß und zwinkerte ihm über die Schulter zu. „Außerdem freut es mich richtig, dass du endlich wieder auftaust ... wurde ja auch Zeit", setzte sie erbarmungslos hinzu, was nur dazu führte, dass Colin übertrieben mit den Augen rollte. Den Karton mit der Pizza, die er scheinbar von draußen mitgebracht hatte, auf den Tisch stellte, und sich kopfschüttelnd durchs Haar fuhr.

„Zudem weißt du, dass ich nur dich liebe, Bruderherz!", flötete Marie belustigt weiter.
„Ja, ja ...", bekam sie von Colin retour. „Das würde ich jetzt an deiner Stelle auch sagen!"

Lächelnd lehnte ich mich zurück und beobachtete ihren Schlagabtausch. Ein bisschen wehmütig, weil es mal eine Zeit gab, in der Ella und ich genauso waren. Unzertrennlich. Ein Herz und eine Seele und immer füreinander da. Wenn ich ehrlich war, so fehlte es mir. Sie fehlte mir. Unsere frühere Beziehung. Da, wo die Welt für uns beide noch in Ordnung war.
„Aber sicher doch! Wie sehr, beweis ich dir gleich!", verkündete sie abrupt. Stellt ihre Flasche ab, erhob sich und ging hinüber zur Treppe, um regelrecht hinauf zubrüllen: „Alle Mann antreten!"

Und tatsächlich, keinen Augenblick später polterte es und drei Kinder erschienen lachend unten auf den Stufen.
„Wisst ihr was?", stieß sie geheimnisvoll aus und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Beugte sich darauffolgend vor und winkte den Kindern zu, damit sie näher traten. Erst dann fing sie an, verschwörerisch zu flüstern, aber so, dass wir dennoch jedes Wort vernahmen: „Was haltet ihr davon, wenn wir Onkel Colin und Onkel Ian, hinauswerfen, um ohne sie eine wilde Pyjamaparty zu feiern. Dann gehört die ganze Pizza uns ganz alleine!" Sofort ertönte ein freudestrahlendes, bejahendes Gebrüll.
„Hast du Lust, Ronja?", wollte sie explizit von meiner Nichte wissen. „Wenn es dir zu wild wird mit uns, oder du deinen Onkel Ian vermisst, rufen wir ihn an und kommt dich holen", schlug seine Schwester des Weiteren vor, blickte über die Schulter und zwinkerte ums zu.

Wie erwartet, willigte meine liebste Nichte, für die ich durch die Hölle ging, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken zu. Wer war schon Onkel Ian, gegen eine richtige Pyjamaparty! Mit Kindern und Pizza! Nein, da zog ich tatsächlich den Kürzeren.

„Na dann! Worauf wartet ihr noch? Schmeißt die beiden raus, bevor sie sich die Pizza schnappen!", verkündete Marie und im Nu stürmten drei Kids auf uns los, um an uns zu zehren, bis sie uns tatsächlich vor die Tür bugsierten.

„Dank mir später!", rief Marie noch, als auch schon die Tür zu ging. „Und viel Vergnügen!" Dann wurde es still und wir standen, natürlich ohne Schuhe, vor versperrten Türen.

„Das ist also deine Schwester ...", seufzte ich, weil ich immer noch mit dem Geschehenen hinterher hing. Mit diesem Ausgang hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
„Das ist meine Schwester ...", seufzte auch Colin.
„Und jetzt?", wollte ich wissen, während ich meine Hände tief in die Taschen meiner Jeans schob und auf meinen Füßen auf und ab wippte.
„Hmmm ...", machte Colin nachdenklich und rieb sich übers Kinn, als auch schon ein zuckersüßes Lächeln sein Gesicht zierte.
„Wenn du nicht willst, dass ich hier einsam und verlassen bei meinen Häschen in dieser Kälte kampiere, musst du mich wohl oder übel mit zu dir nach Hause nehmen ...", dabei biss er sich auf die Unterlippe und sah nur noch mehr zum Anbeißen aus.


Und das tat ich auch.

Sweet EasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt