24. Ian - Mama

300 45 10
                                    


„Mama ...", murmelte ich, stellte mich neben sie und stützte meine Ellbogen am Geländer ab. Nun blickten wir beide hinab in den Garten, in dem die drei Kinder zusammen mit den beiden Häschen durch die Wiese trollten und den Spaß ihres Lebens haben mussten. Uns bemerkten sie gar nicht, oder wir waren ihnen schlicht egal.

„Ian ...", erwiderte sie schlicht, nur um erneut zu schweigen.

Über eine Stunde war es jetzt her, dass ich Colin vor versammelter Mannschaft meine Liebe gestanden hatte. Eigentlich hatte ich das gar nicht vorgehabt und irgendwie fühlte es sich auch ein klein wenig nach zu früh an. Aber auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl, ihn ewig zu kennen. Außerdem, wie er dort neben mir gesessen hatte, völlig überfordert, zweifelnd, mich mal wieder in Schutz nehmend, nein, da konnte ich einfach nicht anders. Konnte nicht schon wieder all die Verantwortung, den Ballast auf ihm abladen. Ich wollte mit ihm zusammen sein, also war es auch an mir, ihm das zu zeigen.

Für einen Augenblick herrschte gespenstische Stille, bis gefühlt alle gleichzeitig zu gratulieren anfingen. Danach tranken wir bei ausgelassener Stimmung weiter Kaffee, bis sich meine Mama mit den Worten, sie schaue mal nach den Kindern, verabschiedete. Kaum, dass sie gefahren war, folgte ich ihr.

Jetzt standen wir also hier. Sahen hinab auf die Kids und schwiegen uns an. Wie so oft in den letzten paar Jahren. Gleichzeitig fühlte sich die Kluft zwischen uns unüberwindbar.

„Es tut mir ...", fing ich an.
„Nein!", fiel sie mir sogleich hart ins Wort, dass ich zusammen zuckte. Ich hatte gewusst, dass sie es nicht gutheißen würde, und sie so ins kalte Wasser zu stoßen tat mir auch irgendwo leid. Aber ganz tief drin in mir hatte ich gehofft, sie würde es einfach akzeptieren. Sie würde sehen, dass er mir guttat. Das seine Familie mir guttat. Und vielleicht auch, dass es Familien gab, die keine Probleme hatten, einen schwulen Schwiegersohn in spe zu bekommen. Dass es ernste Beziehungen nicht nur unter hetero Pärchen gab.

„Aber ...", setzte ich erneut an, wenn auch deutlich schwächer.

„Hör auf, Ian! So hab ich dich nicht erzogen!", hielt sie mich wieder auf. Drehte ihren Kopf, gleichzeitig begegnete ich ihrem herausfordernden Blick. Erneut breitete sich langes, schweres Schweigen zwischen uns aus und ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich wollte sie nicht verlieren. Aber ich wollte auch Colin nicht verlieren. Oder schlicht mich selbst.

Wieso war das Leben manchmal nur so unfair? Hätte sie mich nicht einfach nur anlächeln und mich in den Arm nehmen können, wie früher? Da war es doch auch kein Problem gewesen, dass ich schwul war. Dieser ganze Streit um Ella und die Beförderung in meiner alten Kanzlei hatte alles zerstört. Hatte unser bis dato eingespieltes Dreamteam in Stücke gerissen.

Gott, das war nun schon so lange her. Und auch wenn es tatsächlich irgendwann einmal eine Zeit gegeben hatte, in der ich Ella am liebsten den Hals dafür umgedreht hätte, für das, was sie getan hatte, so war sprichwörtlich mittlerweile genug Gras darüber gewachsen. Ich wollte es einfach nur noch abschließen und vergessen. Außerdem hat es mir deutlich gezeigt, dass ich es, egal wo ich wollte, hoch hinauf schaffen konnte. Ich war nicht nur auf eine Kanzlei angewiesen. Ich konnte arbeiten, wo auch immer es mir gefiel. Und sollte es tatsächlich nochmal zu so einem Fall kommen, dass ich aufgrund meiner sexuellen Orientierung meine Arbeitsstelle wechseln würde. Oder besser gesagt, gehen müsste, weil ich mich dort nicht mehr wohlfühlte, die Blicke nicht ertrug, so wie es damals der Fall gewesen war, so stünden mir mehr Möglichkeiten offen, als ich damals noch geglaubt hatte. Jung und dumm hatte ich angenommen, dort zu arbeiten wäre die Erfüllung meines Lebens. Und dass mein Leben ohne sinnlos gewesen wäre.

„Ich bin damals nicht gekündigt worden, ich bin freiwillig gegangen", stieß ich wütend hervor.
„Wechsel jetzt nicht das Thema!", schmetterte sie rigoros ab und starrte mir weiter in die Augen. Eine Gänsehaut überzog meinen Rücken und Wut brachte mein Blut zum Kochen. Ich liebte sie. Über alles! Aber verdammt auch, ich wollte mein Leben leben, wie ich es für richtig hielt. Und Colin war der Richtige. Ob für immer? Wer wusste das schon? Aber das spielte auch keine Rolle. Nicht in diesem Augenblick, denn in genau jenem würde ich alles für ihn tun.

„Er ist mir wichtig und ich will mit ihm zusammen sein! Ganz gleich, was du davon hältst. Er macht mein Leben leichter, er macht es glücklicher und ganz gleich wie tief ich falle, er fängt mich auf. Ich weiß nicht, wann es mir das letzte Mal so gut ging, wie mit ihm", beendete ich lautstark meinen Monolog, weil ich mich mit jedem einzelnen Wort mehr in Rage geredet hatte.

Sie hingegen hielt mich nicht auf, zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern sah mir unentwegt, immer noch sichtlich streng in die Augen.

„Geht doch", sagte sie schließlich, wandte ihren Kopf von mir ab und blickte wieder hinab zu den Kindern, die nun zwischen den Büschen im hintersten Teil des Gartens verstecken zu spielen schienen. Die Häschen hatten sie wieder ins Gehege gesperrt.
„Geht doch?", fragte ich nach, weil ich jedoch etwas irritiert irgendwie mit einer anderen Antwort gerechnet hatte, und überhaupt, was wollte sie mir damit sagen?

„Hmm ...", seufzte sie und ihre Mundwinkel zuckten nach oben.
„Wie oft hatte ich dir gesagt, dass man sich niemals für seine Entscheidungen rechtfertigen muss? Sondern dazu stehen. Also wieso kamst du nach so großen Worten heraus und wolltest dich entschuldigen, oder noch schlimmer eine Erlaubnis einholen? Wärst du wirklich bereit, ein ‚nein' von mir zu akzeptieren?"
Langsam drehte sie den Kopf? Das sanfte Lächeln auf ihren Lippen war immer noch da, wenn auch ganz schwach. Aber ihre Augen hingegen sahen traurig aus.

„Übrigens wusste ich, dass du nicht gekündigt wurdest. Schon die ganze Zeit. Dass du an diesem vermaledeiten Tag einfach freiwillig gegangen bist, weil du keinen Streit mit dieser verfluchten Familie riskieren wolltest. Ich wusste auch, dass deine Schwester keinerlei Klage gegen diesen Idioten erheben wollte, damit es zu keinem Skandal kam und man diesen Rechtsstreit zu dir zurückverfolgen konnte, nach dem deine Karriere bereits einmal ihretwegen den Bach runterging. Denn, warum auch immer, mussten meine beiden, liebsten Kinder, von all meinen tollen Eigenschaften gerade meine Sturheit erben. Die und das Talent, ein Leben in Dramen zu führen."

Wortlos starrte ich sie an. „Woher?", war das Einzige, was mir über die Lippen kam. „Woher was? Ich das alles wusste? Ich bin in das Büro von diesem aufgeblasenen Anwalt gefahren und habe ihn zusammengestaucht, was er sich einbildete, dich aufgrund deiner sexuellen Orientierung zu feuern und dass er lieber stattdessen darauf achten sollte, wo sein nichtsnutziger Abkömmling überall für Nachfahren sorgte. Und ob er sicher war, sein Erbe unter so vielen Enkeln aufteilen zu wollen, nur weil sein lieber Sohnemann, nicht wusste, wie man Kondome richtig benutzte."

Fassungslos öffnete ich den Mund, ohne recht zu wissen, was ich darauf erwidern sollte.

„Was schaust du so? Ich kümmere mich schon euer Leben lang alleine um euch. Denkst du, ich lass' sowas einfach auf mir sitzen? Nie im Leben! Gut, für dich konnte ich nichts tun. Aber für Ronja, hat er bezahlt. Genug, um einmal unbeschwert studieren und ins Leben starten zu können." Diesmal verfinsterte sich ihr Blick und sie verzog ihre Lippen zu einem dünnen Strich.
„Du hast mir immer gesagt, du wärst normal, schwul zu sein, würde dich nicht einschränken, dich nicht ausbremsen. Du wärst glücklich damit. Und ich hatte dir geglaubt! Aber was hattest du gemacht? Als es tatsächlich darauf ankam, zu dir selbst zu stehen? Du hast bei der ersten Gelegenheit den Schwanz eingezogen und bist abgehauen! Hast Mitleid erwartet und warst beleidigt, als ich sagte ‚schwul zu sein' würde dein Leben einschränken und dass du nicht offen leben kannst. Was?", fuhr sie mich erneut an und hob ihre Augenbraue. „Weißt du, was dein Ex-Chef damals zu mir gesagt hatte? Er sagte: ‚Vielleicht hätte ich ihn gar nicht gekündigt. Aber alleine, wie er beim kleinsten Problem kampflos das Weite gesucht hat, beweist, dass er diese Beförderung niemals verdient hätte" und nein, ich weiß nicht, ob er dich hätte weiter dort arbeiten lassen oder ob er dir unter fadenscheinigen Anschuldigungen gekündigt hätte. Aber ich finde dennoch, an seinen Worten ist was Wahres dran. Du bist abgehauen, bevor er dich überhaupt damit konfrontieren konnte. Du hast dich hinter deiner Orientierung versteckt, hast lieber Ella dafür verachtet, dass sie dein Leben auf den Kopf gestellt hatte, statt, dass du an dich selbst geglaubt und vor allem für dich selbst eingestanden hättest."

„Mama ...", ertönte es hinter uns und meine Schwester trat zur Tür hinaus. „Ich hatte ja auch Schuld. Hätte ich Sebastian damals nicht aus Wut erzählt, dass Ian schwul ist, hätte er das nie gegen ihn verwenden können ..." Und an mich gewandt: „Ian, es tut mir so, so leid. Wirklich. Ich war damals so sauer, als du mir erzählt hast, dass er jeden Tag eine andere hätte und als ich ihn konfrontierte, hatte er nur gelacht und meinte, du bist nur neidisch auf seine hübschen Klientinnen und eifersüchtig auf ihn. Da ist mir herausgerutscht, dass das gar nicht sein konnte, weil du nicht auf Frauen stehst."
Aufschluchzend ließ sie die Krücken fallen und presste sich ihn Hände ins Gesicht. Immer wieder ‚es tut mir so leid' murmelnd.

Und ich, ich stand einfach nur da und kam kaum noch mit dem gesagten hinterher.
„Du hast meinetwegen auf die Vaterschaftsklage verzichtet? Aber du hast mir doch gesagt, dass du nie wieder was mit ihm zu tun haben wolltest und dass er sich sein Geld sonst wohin stecken konnte", seufzte ich schwer, schüttelte den Kopf und traf auf sie zu, um sie an mich zu ziehen. So unstabil wie sie auf den Beinen war, hatte ich echt Angst, sie würde jeden Augenblick umkippen.
„Du hast doch sowieso schon so viel für mich gemacht ...", schluchzte sie immer wieder bebend an meiner Brust. „Ich hab alles kaputt gemacht", setzte sie hinzu und weinte nur noch mehr. Also griff ich fester zu, gab ihr Halt und schloss die Augen. Was für ein Theater. Vier Jahre und immer noch bestimmte ein einziger Augenblick unser aller Leben. Vielleicht war es an der Zeit, loszulassen. Zu vergessen. Und sauer war ich sowieso schon lange nicht mehr. Enttäuscht, traurig, einsam – ja. Aber hassen, nein, tat ich wirklich nicht. Denn ganz gleich was, ich liebte meine Familie. Und ich wollte ihnen wieder normal begegnen. Wollte auch weiterhin ein Teil von Ronjas Leben sein. Ohne, dass sich irgendjemand dabei schlecht fühlte, ein schlechtes Gewissen hatte oder noch schlimmeres.

Ja, doch. Wenn ich ehrlich war, war es wirklich an der Zeit.

„Weißt du was, vergessen wir die ganze Geschichte doch einfach", brummte ich schwer, während ich ihr immer und immer wieder über ihr langes dunkles Haar strich. „Es ist schon so lange her und daran ändern können wir auch nichts mehr. Aber wir könnten aus der Zukunft das Beste machen, hmmm ...? Ich hab euch nämlich vermisst ...", gab ich zu und musste selbst ein paar Mal blinzeln, weil die verräterischen Tränen auch vor mir keinen Halt machten. Colin hatte wohl irgendwelche Knöpfe in mir gedrückt, die mich deutlich emotionaler werden ließen. Früher hatte ich nie geweint. War nie sentimental. Nur wütend, frustriert. Und dann hatte ich mich in Arbeit gestürzt, bis ich es ertragen konnte.

„Wirklich?", nuschelte sie, hob ihren Kopf und blickte mich mit ihren großen, braunen Rehaugen an. Rot, unterlaufen und geschwollen, aber immer noch hübsch. Also hob ich die Mundwinkel und lächelte sie an. „Wirklich ... es war nur ein Job und davon gibt es viele." Es hatte zwar lange gedauert, bis ich das verstanden hatte, aber dafür fühlte ich mich jetzt befreit.

„Was ist, wenn etwas Ähnliches wieder passiert?", wollte Ma wissen und ich blickte an Ella vorbei zu ihr hinab. Die Hände auf dem Schoß gefaltet, sah sie herausfordernd zu mir herauf. „Jetzt, wo du eine ernsthafte Partnerschaft eingehen willst, mit Colin, beginnt dann ein Versteckspiel? Denn egal wie gut du es verbirgst, es wird immer wieder jemanden geben, der euch sieht, der verrät, wie du wirklich bist, der deine Karriere zum Kippen bringt. Zerstört, was du dir erneut so lange aufgebaut hast."

Sweet EasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt