13. Colin - Offenbarung

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Eigentlich war ich fast schon zur Tür hinaus, dennoch konnte ich einfach nicht gehen. Musste zurück, musste sehen, wie es ihm ging. Der Kuss, sein emotionaler Zustand den Abend über schon, schrie verzweifelt nach Hilfe und die konnte und wollte ich ihm nicht verwehren. Ganz gleich, was morgen kommen würde, ich musste einfach für ihn da sein. Und es hatte sich gezeigt, dass mein Bauchgefühl mich nicht getrogen hatte. Ihn so fix und fertig zu sehen, sitzend auf dem Sofa, in einem sichtlich tiefen, dunklen Loch gefangen, hatte mir schier das Herz gebrochen. Spätestens in diesem Augenblick hätte ich alles für ihn getan, wäre ich bis ans Ende der Welt für ihn gegangen. Deswegen war es auch überhaupt keine Frage gewesen, bei ihm zu bleiben, als er mich darum bat, die Nacht bei ihm zu verbringen.

Nun lagen wir also hier, zusammen in seinem dunklen Schlafzimmer. Hand in Hand und ich lauschte seiner Stimme. Sie klang leise, rau, als würde jedes Wort ihn unendlich viel Überwindung kosten. Als hätte er all das Geschehene noch nie zuvor in Worte gefasst. Um so stolzer war ich auf ihn, dass er endlich losließ, alles rausließ, in der Hoffnung, dass es ihm am Ende besser gehen würde.

„Die Verhältnisse in unserer Familie waren schon immer sehr angespannt", fing er stockend an zu erzählen. „Bist du dir sicher, dass du das alles hören willst? Es ist eine lange und nicht gerade schöne Geschichte", setzte er seufzend hinzu, und seine Finger verkrampften sich um meine Hand. Aufmunternd und beruhigend zugleich, fuhr ich mit meinem Daumen über seinen Handrücken. Es musste wirklich schwer sein für ihn, all das endlich loszulassen.

„Ach, weißt du, ich hab grade eh nichts Besseres vor, also schieß einfach drauflos", antwortete ich lapidar und hoffte, ihm so etwas von der Anspannung zu nehmen. Kurz verfielen wir erneut in Schweigen, dann räusperte er sich und begann von neuem zu reden.

„Unser Leben veränderte sich schlagartig. Ma wurde krank, bekam nach einer gefühlten Odyssee, während dieser sie von Arzt zu Arzt rannte, die Diagnose, dass sie MS hatte und ein Schub folgte dem nächsten, was unser ganzes Familienleben etwas auf den Kopf stellte.", er unterbrach. Schluckte schwer, bevor er weiter sprach. „Darauf hatte unser liebster Erzeuger aber gar keine Lust und nahm eines Tages einfach Reißaus.", seine Stimme wurde fester. Wütender. „Seitdem hatten wir ihn weder gesehen noch was von ihm gehört. Geschweige denn, dass er für irgendetwas finanziell aufgekommen war. Da stand also meine Ma alleine da.", wieder brach er ab. Die Decke raschelte und ich vermutete, dass er sich übers Gesicht fuhr. Dann wurde er wieder leiser, verzweifelter, fast so, als würde er das gesagt, gerade wieder neu erleben. „Ella und ich versuchten zu helfen, wo es nur ging, aber wir waren noch zu klein und Ma nahm jeden nur erdenklichen Job an, um uns drei über Wasser zu halten. Was natürlich nicht gerade förderlich für ihre Gesundheit war. Also verringerten sich die Abstände zwischen den Schüben, ihr ging es immer schlechter und sie landete letzten Endes im Rollstuhl. Danach wurde alles schlimmer. Sie hatte das Gefühl versagt zu haben, und umso größer wurde ihr Ehrgeiz, dass wir beide erfolgreich werden sollten. Wir sollten Geld haben, um jederzeit alleine auf eigenen Füßen stehen zu können. Um alleine eine Familie durchbringen zu können. Und was noch wichtiger war, wir sollten eine perfekte Familie gründen. Sollten all das haben, was sie uns nicht hatte bieten können."

Er stockte, räusperte sich und atmete tief durch, dabei umklammerten seine Finger meine Hand umso fester.

„Das muss eine schwere Zeit für euch alle gewesen sein", murmelte ich betroffen und konnte mir gar nicht ausmalen, wie es für seine Mutter gewesen sein musste, krank zu sein, Schmerzen zu haben und gleichzeitig alleine für zwei Kinder zu sorgen. Im Stich gelassen, wohl nicht nur vom Mann.

„Das war es. Für sie auf alle Fälle. Denn dank ihr hatte es uns nie an etwas gefehlt. Egal wie es ihr ging, sie hatte uns immer mit ihrer Liebe und ihrer Zuneigung überschüttet. Klar hatte sie uns auch gedrillt, was Schule und Leistung anging, deswegen ließ sie es auch nicht zu, dass wir, als wir alt genug waren, Nebenjobs annahmen. Stattdessen machte sie es möglich, dass wir sämtliche Freizeitaktivitäten, die wir wollten, und die sie für wertvoll und Zukunft bringend erachtete, ausüben konnten", beendete er fast schon liebevoll flüsternd. Jetzt war ich mir sicher, dass er weit weg in der Vergangenheit verweilte.

Sweet EasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt