„Wie um Himmelswillen, kommst du nur darauf?", rutschte es regelrecht aus mir heraus. Gut, ich hatte die letzten paar Tage, seit sie bei mir war, nicht viel Zeit für sie gehabt und davor hatten wir uns auch lediglich zu den üblichen Feiertagen gesehen. Dennoch hatte ich immer versucht, mein Bestmögliches zu geben. Ich mochte vielleicht nicht, wie alles gekommen war und dass sie so urplötzlich mein bis dato eh schon kompliziertes Leben auf den Kopf gestellt hatte, aber dafür konnte sie ja nichts. Und mir war durchaus bewusst, dass es auch für sie keine allzu tolle Lösung und eine völlige Umstellung darstellte.
„Oma hat gesagt, du hasst Mama und du kannst mich nicht leiden", ließ sie die Bombe platzen und wäre ich gestanden, so hätte ich mich wohl hin gesessen, aber so blieb mir nur, das kleine Mädchen fassungslos anzustarren.
„Weil Mama dein Leben kaputt gemacht hat", setzte sie hinzu und widerwillig schloss ich die Augen. Atmete tief durch und versuchte, mein eigenes Gefühlschaos zu ordnen. Dann schluckte ich alles hinunter, öffnete die Augen und blickte Ronja direkt ins Gesicht.„Es stimmt, dass ich mit deiner Mama einen großen Streit hatte und dass wir uns auch heute nicht immer gut verstehen. Aber es stimmt nicht, dass ich dich nicht mag. Sonst hätte ich dich doch auch gar nicht genommen."
„Aber Oma hat gesagt, du hast keine Wahl. Wenn du mich nicht nimmst, will mich niemand", ihre Stimme bebte, ihre kleinen Finger schlossen sich um die Tasse Kakao und sie senkte den Blick, der sich erneut mit Tränen füllte. Dabei wirkte sie so klein, zerbrechlich, regelrecht verloren, dass mich zum ersten Mal das Gefühl überfiel, dass auch sie in ihrem ach so kurzen Leben schon viel durchmachen musste. Viel verloren hatte. Sie auch, nicht nur ich.„Ich hab dich lieb, ganz egal, was die Oma sagt", murmelte ich verzweifelt und wusste nicht so recht, wie ich diesem sichtlich aufgelösten Kind begreiflich machen konnte, dass ich ihr keine Schuld gab für unsere verkorkste Familie. Für mein Leben. Sie konnte tatsächlich überhaupt nichts dafür.
Dennoch schienen meine Worte nichts zu bewirken oder vielleicht auch gar nicht anzukommen. Und wieder saß ich da und wusste nicht, was ich machen sollte. Dann plötzlich gähnte sie und rieb sich übers Gesicht. Wer konnte es ihr verübeln, der Uhr an der Wand zu urteilen, war es bereits kurz vor zehn. Sie hätte längst schlafen müssen.
„Gehen wir schlafen?", schlug ich vor und hoffte instinktiv, dass ein bisschen Schlaf die Wogen glätten und der morgige Tag besser laufen würde. Schließlich war Samstag und ich nur am Morgen einen Termin von höchsten zwei Stunden, dann könnte ich mir wirklich Zeit für sie nehmen.
„NEIN!", fuhr sie mich an und wieder waren ihre Arme vor der Brust verschränkt. Gott, wie mich das an ihre Oma erinnerte. Aber so, wie ihre Aussagen klangen, hatte sie weit mehr von ihr abgeschaut. Wie konnte man nur derart vor einem Kind reden? Selbst mir, der absolut keine Ahnung von Kindern hatte, war klar, dass solche Aussagen nicht für die Ohren von Knirpsen gedacht waren. Auf der anderen Seite wunderte mich gar nichts mehr.
„Nein?", flüsterte ich niedergeschlagen und war mit meinem Latein am Ende. „Warum?", setzte ich hinzu und ließ die Schultern sinken.
„Ich mag mein Zimmer nicht. Das ist es gruselig."
Perplex öffnete ich meinen Mund, ohne zu wissen, was ich darauf erwidern sollte.
„Aber wieso?", brachte ich schließlich hervor. „So halt", bekam ich retour und merkte, dass sie sich immer mehr verschloss. „Und wenn du heute Nacht bei mir schläfst?", schlug ich das Naheliegendste vor und erntete erneut ein vehementes ‚NEIN'. „Da ist es auch gruselig."Mit offenstehendem Mund starrte ich sie an, dann gefühlt zehn geschlagene Minuten später wandte ich meinen Kopf und blickte verzweifelt, nach Hilfe suchend zu meinem Nachbarn. Seinen Ideen hatten sich immer als sehr brauchbar erwiesen, vielleicht hatte er jetzt auch einen Geistesblitz parat?
Doch auch er schien etwas überfordert zu sein, dann unvermittelt fing er an, auf seiner Unterlippe zu kauen und verzog etwas das Gesicht, als wäre er nicht sicher, ob mir seine Worte gefallen würden. Aktuell war mir aber alles recht, sodass ich kurzerhand aufmunternd nickte. Was sollte schon passieren?
„Ihr könntet auch hier übernachten", sagte er leise und ganz vorsichtig. „Ich hab oben ein Kinderzimmer eingerichtet", ergänzte er an Ronja gewandt. Gut so, so konnte er nämlich nicht sehen, wie meine Kinnlade erneut an diesem ach so tollen Abend herabfiel. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber ganz sicher keine Einladung zu einer Pyjamaparty mit einem Fremden. Der musste uns doch dermaßen satthaben ... Immerhin stellten wir seit zwei Tagen sein bis dato ruhiges Leben auf den Kopf.
„Es ist ein Etagenbett, das aussieht wie ein Haus und es hat sogar eine Rutsche", murmelte er in die Stille hinein.
„Eine Rutsche?", fragte Ronja etwas skeptisch nach und er nickte. „Willst du es dir mal ansehen?" Diesmal war es Ronja, die nickte, etwas unbeholfen von ihrem Stuhl kletterte und zu ihm hinüberging, während er sich erhob. Immer noch überfordert von der ganzen Situation rappelte auch ich mich hoch und gemeinsam machten wir uns auf dem Weg ins obere Geschoss.Es war tatsächlich ein voll eingerichtetes Kinderzimmer. Neben dem angepriesenen Bett mit Rutsche gab es einen Schrank und ein Regal mit Spielen, Büchern und einem Tisch mit zwei Stühlen, auf dem Malutensilien lagen. Gefühlt überall lagen oder saßen Kuscheltiere und auf einem Spielteppich stand eine Kiste gefüllt mit Bausteinen und Fahrzeugen. Ich glaube sowohl mir als auch Ronja stand die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Dieses Zimmer war ein Paradies für Kinder und besser ausgestattet als das von Ronja. Und die hatte schon ein tolles Zimmer.
„Meine Schwester verbringt oft die Ferien mit ihren Zwillingen bei mir", rechtfertigte sich der Kerl neben mir, weil dieses peinliche Schweigen überhandnahm. „Gleich daneben ist das Gästezimmer, welches meine Schwester immer nutzt. Da könntest du schlafen", wandte er an mich und deutete auf besagte Tür. Und zum ersten Mal, seit sie mir ins Gesicht gesagt hatte, dass ich sie nicht mochte, blickte Ronja mir erneut in die Augen und ihre Lippen formten sich zu einem Schmollmund. Ich wusste, was kommen würde, und so hatte ich auch gar keine Wahl, als zu nicken.
„Ja, du kannst hier schlafen, aber nur heute!", setzte ich sicherheitshalber hinzu, damit sie gar nicht erst auf die Idee kam, mich gänzlich gegen diesen fremden Mann einzutauschen und kurzerhand für immer und ewig bei ihm einzuziehen.
„Darf ich rutschen?", bat sie ihn mit großen Augen und immer noch perfektem Schmollmund. „Dreimal und dann wird aber geschlafen", grinste er ihr zwinkernd zu. „‚Hast du schon Zähne geputzt?", wollte er dann noch wissen.
„Aber klar doch. Mit Andrea. Ganz lange, damit ich hübsch bin, wenn ich groß bin", erwiderte sie und zeigte stolz ihre perfekt, weiß strahlenden Zähne. Im Anschluss daran stürmte sie los und die Leiter hinauf, um endlich zu rutschen. Das Drama des Abends schien für sie fürs Erste vom Tisch zu sein. Vielleicht sollte ich auch ein paar Mal rutschen? Denn in mir drin herrschte immer noch Chaos.
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Sweet Easter
RomanceKleine Oster-Kurzgeschichte, die sich langsam zu etwas Längerem entwickelt ... Ein junger Anwalt mit Leib und Seele, kurz vor einer wahnsinnig wichtigen Beförderung, die er auf keinen Fall vergeigen darf, versinkt in Stress und Überstunden. Und als...