Wohlig seufzend streckte ich mich in meinem Bett, schloss erneut die Augen und ließ unseren gestrigen Abend samt der Nacht Revue passieren. Viel geschlafen hatten wir nicht. Nachdem wir noch eine ganz Weile auf dem Boden zusammen gekuschelt hatten, wechselten wir unter die Dusche. Dank des zuckersüßen Eises hatte wir und alles andere geklebt. Einen neuen Teppich würde ich mir wohl auch besorgen müssen. Und dennoch war es, es wert. Jede Sekunde mit ihm perfekt, erfüllend. Und keine davon wollte ich missen. Ihn schon gleich dreimal nicht.
Erneut entkam mir ein Seufzer aus tiefster Seele und ich schnappte mir das Kissen, auf dem er gelegen hatte, nur um es mir ans Gesicht zu pressen. Seinen Duft einzuatmen und ihn nur noch mehr zu vermissen. Obwohl er ja gar nicht weg war, sondern lediglich die Tür öffnete, nachdem es geläutet hatte und mein Einwand, die Kinder einfach noch ein keines bisschen länger warten zu lassen, ignoriert wurde.
Ich mein, ein wenig gestohlene Zeit hätten sie uns noch gönnen können. Der Osterhase würde dieses Jahr eben einfach halber erst um zehn die Ostereier verstecken, statt um halb neun, wie mir Colin versichert hatte. Aber mir wären da noch ganz andere Dinge eingefallen, die ich am heutigen Morgen suchen hätte können. Und hey, mit Eiern hätte es ja, zur Feier des Tages, auch zu tun gehabt. Stattdessen lag ich hier, einsam und verlassen, und kuschelte mit einem sehr schlechten Ersatz.
Ja, doch. Ich war verknallt! Und hätte ich davor noch Zweifel gehabt, war es spätestens nach unserer Nacht nicht mehr zu leugnen. Ich mochte ihn. Mochte seinen Körper. Seine Art. Sein ganzes Wesen. Und ich wollte Zeit mit ihm verbringen. Unendlich viel Zeit. Nicht nur im Bett. Ich wollte mit ihm ausgehen, in Bars, ins Kino, essen gehen. Ich wollte mit ihm auf Reisen gehen. Ich wollte ihn schlicht und einfach kennenlernen. Denn jeder Augenblick mit ihm machte mich glücklich. Fühlte sich erfüllend an. Ganz ohne es zu wissen, fing er mich auf. Gab mir Halt. So wie mit ihm hatte ich mich noch nie gefühlt. Ein kleines bisschen hatte er nicht nur Ronja von meiner Unfähigkeit, sondern auch mich gerettet.
„Ian. Kommst du bitte mal!", riss mich Colins Stimme aus meiner Schwärmerei und genervt stöhnte ich auf. Ein ganz kleiner Teil, tief in mir drin, hatte tatsächlich drauf gehofft, er würde wieder zurückkommen und noch etwas Zeit mit mir verbringen.
„Du hast Besuch", rief er hinterher und irgendwas an seinem Tonfall ließ mich aufhorchen. Denn es klang etwas zu hoch, für seine sonstige Stimmlage.
Alarmiert hüpfte ich sogleich aus dem Bett, schnappte mir ein Shirt und eine Jogginghose aus dem Schrank und zog mich um Bruchteil einer Sekunde an, nur um keinen Augenblick später die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinabzustürzen. Innerlich betend, meine Befürchtung würde sich nicht bewahrheiten.
„Wollen Sie derweil drinnen auf ihn warten? Ich mach' ihnen einen Kaffee", hörte ich grade noch, da kam ich auch schon ums Eck geschossen, nur um im Laufschritt zu erstarren. Was zum Teufel machten die denn hier?
„Mama. Ella", stieß ich etwas atemlos aus und merkte, wie mir gleichzeitig das Blut in die Beine sackte. Was zur Hölle machen die beiden hier? Hätte die eine nicht im Therapiezentrum sein sollen und die andere bei sich zu Hause? Stattdessen erwischten sie mich, nach Colin und meiner ersten gemeinsamen Nacht ohne Ronja. ‚Oh Scheiße, Ronja!', fiel es mir siede heiß ein und gleichzeitig wäre ich am liebsten gestorben. Zumal mich beide fassungslos anstarrten.
„Wo ist Ronja?", wollte meine Mutter auch so gleich schneidend wissen. Ich hingegen war lediglich in der Lage, den Mund zu öffnen, brachte aber kein Wort zustande.
„Ihr geht es gut. Sie ist drüben in meinem Haus. Sie hat zusammen mit meiner Schwester und ihren Zwillingen eine Pyjamaparty gefeiert. Jetzt wollen wir gemeinsam auf Ostereiersuche gehen und anschließend einen Osterbrunch veranstalten. Sie beide sind natürlich herzlich eingeladen", antwortete Colin für mich. Lieb gemeint, aber gleichzeitig machte er alles schlimmer, denn mir war das Blitzen in Mama Augen nicht entgangen.
„Du lässt deine Nichte einfach bei Fremden, nur damit du dich durch Betten wälzen kannst? Mit ihm?", sagte sie zwar, und doch klang es eher nach ‚mit einem Kerl'. Aber ganz gleich, da war sie auch schon, die Anschuldigung, die ich befürchtet hatte. Und immer noch wusste ich nicht, was ich erwidern sollte. Irgendwo hatte sie doch auch recht, flüsterte mein schlechtes Gewissen. Ich hätte Ronja vermutlich nicht alleine lassen sollen.
„Oma ... Mama ...!", erklang es von neben an und ich blickte an Ella und Mama vorbei, nur um am Gartentor Ronja zu erblicken, die freudestrahlend genau auf uns zustürmte. Hinter ihr die beiden Zwillinge lachend im Schlepptau.
„Ihr seid genau richtig! Ich glaub', der Osterhase war schon da!", verkündete sie lachend, wie es eben nur Kinder taten. Fiel Ella um die Hüfte, dass diese fast auf ihren Krücken umkippte.
„Mama ...!", stieß Ronja erneut glücklich aus. „Wir wollten dich doch heute Nachmittag besuchen, nach dem der Osterhase hier war. Und jetzt bist du da. War das eine Überraschung?", plapperte sie einfach weiter. Ließ von Ella ab, nur um sich auf Mamas Schoß plumpsen zu lassen, wie sie es eigentlich immer tat. „Oma, suchst du mit mir Ostereier. Ich glaub' bei Keks und Krümel hab ich was Blaues blitzen gesehen. Das ist bestimmt ein blaues Ei. Ohhh ich bin soooo gespannt!"
„Guten Morgen", begrüßte uns auch Colins Schwester, die etwas atemlos den Kindern hinterhergelaufen kam. „Sorry, länger hab ich sie nicht mehr im Schacht halten können." Und an meine Familie gewandt. „Sie sind bestimmt Ians Mama. Hallo, ich bin Marie! Und sie sind Ella?", wandte sie von einem zum anderen und strahlte beide an, als hätte sie Mamas Vorwurf nicht gehört. Gott, ich liebte sie jetzt schon! Wie bereits Colin, war auch seine Schwester einfach nur ein Traum und ein Engel auf Erden. Sie kannte mich erst seit zwei Tagen persönlich und an beiden davon kam sie mir ungefragt zu Hilfe. Wieso konnte ich nicht so eine Familie haben?
Statt zu antworten, breitete sich erdrückendes Schweigen aus. Gleichzeitig wusste ich nicht, wer zuerst an einem Herzstillstand umkippen würde. Ich oder meine Ma. Vielleicht auch noch Ella, aber diese sah bei Weitem nicht so blass drein wie Mama. Ich konnte regelrecht dabei zusehen, wie sich das Gewitter über Ma's Kopf zusammen braute. Gleich würde es sicherlich krachen und laut werden.
„Colin, wo sind deine Manieren, hast du schon alle zum Brunch eingeladen? Mama und Papa kommen spontan auch gleich vorbei", setzte sie hinzu und lächelte erneut in die Runde, als würde sie diese bösen Schwingungen nicht spüren.
„Ja, ich bitte sie. Feiern Sie mit uns zusammen Ostern. Ronja würde sich sicherlich freuen. Und wir auch", murmelte Colin weit weniger euphorisch, wie grade noch zu vor.
„Können wir jetzt Osternester und Ostereier suchen?", stießen die Zwillinge wie im Chor aus und wollten grade losstürmen, da fuhr ein silberner Mercedes vor, den sie wohl sofort erkannten. „Oma! Opa!", ertönte es erneut im Chor und die beiden stürmten davon.
„Mama, Oma kommt!", befahl auch der kleine Feldwebel. Hüpfte von Mamas Schoß und stürmte davon, bevor Ma nach ihr greifen, und sie zurückhalten konnte. Immer den Zwillingen nach, die jetzt kreischend ihre Großeltern begrüßten. Was für ein perfektes Chaos war das denn bitteschön? Und was hatte ich in meinem vorherigen Leben verbrochen, um sowas zu verdienen?
„Ich glaub', wir sollten gehen, bevor die Kinder noch vor Spannung noch explodieren", seufzte Colin und fuhr sich durchs Haar. Ob er schon bereute, sich auf mich eingelassen zu haben? Irgendwie endete unsere Honeymoonnacht in einer reinen Katastrophe à la willkommen in der bitteren Realität.
Aber wie hätte es auch sein sollen? Mein Leben lief nun mal genau so ab. Immer wenn ich dachte, ich wäre am Ziel, stürzte ich in Chaos. Gab auf und verkroch mich in Mitleid suhlend, bevor ich die Kraft fand, wieder vorwärtszugehen. So war es zumindest bis jetzt.
Aber hier und heute, da konnte ich doch nicht einfach so meinen Kopf in den Sand stecken, oder? Wenn ich dies tat, so hätte ich verloren. Hätte Colin verloren und dazu war ich nicht bereit. Ja, diese beiden vor mir waren meine Familie und ja ich liebte sie, genauso wie sie waren. Vielleicht war es aber an der Zeit, dass sie mich zurück liebten, genau so, wie ich eben war. ‚Oder eben auch nicht', flüsterte meine innere Stimme und ließ mich innerlich seufzen. Das war doch zum Verrücktwerden.
Wieso auch mussten sie einfach unangekündigt hier aufgetaucht? Ja, klar! Sie wollten Ronja besuchen. Sie überraschen! Weil Ostern war. Auch ich konnte eins und eins zusammen zählen. Aber hätte ich auch nur einen Augenblick daran gedacht, dass so ein Fall eintreten hätte können, hätte ich nie Colin geschickt, um die Tür aufzumachen. Hätte ich nie Ronja alleine gelassen. Hätte ich nie die Nacht mit ihm verbracht.
Alles in mir drin zog sich zusammen. Alleine dies zu denken, fühlte sich falsch an. Wir hatten nichts Falsches gemacht! Ronja war es gut gegangen, wahrscheinlich viel besser als alleine mit mir! Und ich bereute keine Sekunde mit ihm. Ganz gleich, was Mama davon hielt. Also würde ich jetzt nicht anfangen ausreden, oder gar einen Schuldigen zu suchen. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich von ihm distanzierte. Vielleicht mussten sie ja wirklich ins kalte Wasser geworfen werden. Und entweder sie schwammen mit mir, oder unsere Beziehung ging endgültig unter. Ein für alle Mal.
Aber das mit Colin war mir so wichtig, dass ich bereit war, es zu riskieren. Von dem fadenscheinigen Frieden loszulassen. Entweder sie liebten mich so, wie ich war, oder sie ließen mich los, damit ich mein Leben alleine leben konnte, wie ich es für richtig hielt. Sicher, alleine der Gedanke daran zerriss mir das Herz, alleine weil ich keine Ahnung hatte, was am Ende für mich blieb. Hatte ich dann noch eine Familie? Hatte ich dann noch Colin? Oder hatte er, so verzweifelt er gerade drein sah, ebenfalls schon die Schnauze voll von mir? Denn ganz ehrlich, was hatte ich schon zu bieten, außer einen Haufen Probleme?
Also fasste ich all meinen Mut zusammen. Schloss für eine Millisekunde die Augen, um mich zu sammeln und anschließend zu räuspern.
„Mama, Ella, würdet ihr mit uns gemeinsam brunchen?", fragte ich dann in die immer noch gespenstische Stille. Abgesehen von dem Stimmengewirr im Hintergrund, wo sich Marie mit ihren Eltern unterhielt. Ja, seine Eltern, von denen ich keine Ahnung hatte, dass sie auch zu Besuch kommen würden. Hieß es nicht, sie wären verreist? Gott, wie sie wohl auf mich und unsere Beziehung reagieren würden? Auf dieses, ganzes Theater gerade?
Gott, mein Arsch ging mir gehörig auf Grundeis. Denn auf allen Seiten stand unsere Beziehung auf der Kippe.

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Sweet Easter
RomanceKleine Oster-Kurzgeschichte, die sich langsam zu etwas Längerem entwickelt ... Ein junger Anwalt mit Leib und Seele, kurz vor einer wahnsinnig wichtigen Beförderung, die er auf keinen Fall vergeigen darf, versinkt in Stress und Überstunden. Und als...