Kapitel 31 - Drei Sätze

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„Hast du dich schon einmal gefragt, warum du hier bist, Raisa?" Die Frage wurde von Seina gestellt, die dicht neben ihrer Freundin saß und in den wolkenverhangenen Himmel blickte. Seit Tagen schon regnete es unaufhörlich in Hyrule und die kalten Regentropfen fanden jeden erdenklichen Weg, um Haut, Haar und Kleidung der beiden jungen Mädchen zu benetzen. An der Häuserwand zu ihrem Rücken liefen kleine Rinnsale zwischen den Ziegelsteinen die Fugen zu ihren Rücken hinab; gleiches geschah auf dem Steinpflaster zu ihren Füßen in der kleinen Nebenstraße, in welcher sie verweilten. Die Beine fest an den Körper gezogen, versuchten sie auszuharren und zu kämpfen; gegen die Kälte, gegen den Hunger, gegen das Aufgeben.

„Was soll die Frage? Darauf kann man keine Antwort finden", erwiderte Raisa die Worte ihrer Freundin. Sie war nicht in der Stimmung, zu reden. Während sie ihre Augen geschlossen hielt, dachte sie lieber an einen besseren Tag, an dem es nicht so kalt war und an dem sie nicht ihre Fingernägel in die Haut ihrer Beine bohren musste, um das Ziehen im Magen durch Schmerz vergessen zu lassen. Mit Schmerz konnte sie besser umgehen als mit dem unaufhörlichen Gefühl des Hungers.

„Ich meine nicht, warum du geboren wurdest oder existierst. Warum musst du hier mit mir bei Regen auf der Straße sitzen und ausharren? Du hättest auch in einer glücklichen Familie aufwachsen können, in welcher du stets versorgt wirst. Warum aber sitzt du hier?" Seina konnte im Gegensatz zu Raisa das beklemmende Gefühl ihres Körpers nicht durch eine andere Empfindung austauschen, ohne darin noch größeres Leid zu finden. Stattdessen versuchte sie Ablenkung in Gesprächen zu finden. Auch, damit sie das Klappern ihrer Zähne nicht hören oder das Beben ihrer Lippen spüren musste.

„Schau nur, dort vorne", meinte Seina und stieß ihre Freundin leicht an, damit diese ihrem Blick folgte. Langsam nur hob Raisa ihren Kopf und ließ ihren Blick durch die kleine Nebenstraße wandern, in welcher neben den beiden noch einige andere saßen und ausharrten. Hin und wieder verloren sich Fremde in Straßen wie diese, unwissend, dass alles Unschöne hier hauste. Eben solche Fremden meinte Seina. Es war eine Zorafamilie, bestehend aus drei Mitgliedern. Die beiden Eltern hielten ihr Kind jeweils an einer Hand. „Der Regen ist wirklich ein Segen!", sprach das kleine Zoramädchen begeistert. Für sie mochte es stimmen und wirklich ein freudiger Anblick sein, zu sehen, wie das Regenwasser ihre roten Schuppen zum Funkeln brachte.

„Ich kann mich an meine Mutter kaum erinnern. Sie war eine Prostituierte, weshalb es auch nie einen Vater für mich gab. Er war einer von vielleicht hunderten von Männern, wer weiß das schon. Jedenfalls starb meine Mutter früh an einer Krankheit... So etwas ist in diesem Metier nicht ungewöhnlich. Die Bewohner des Hauses, in welchem...all das stattfand, wollten mich nicht bei sich behalten, da ich nur ein nutzloses Balg gewesen wäre, dessen Maul es zu stopfen galt. Und bis ich ihnen von Nutzen gewesen wäre, hätte es zu lange gedauert. Bei einer Fahrt hierher nach Hyrule-Stadt setzten sie mich schließlich aus... Ich weiß nicht mehr, wie alt ich zu diesem Zeitpunkt war. Vielleicht sieben?" Eigentlich wollte die Rothaarige noch mehr erzählen, doch ein weiterer, stechender Schmerz in ihrer Magengegend ließ sie schmerzerfüllt keuchen und schließlich verstummen.

Raisa, die den Kopf wieder gegen ihre Knie gelehnt hatte, drehte diesen leicht und sah mit einem geöffneten Auge kurz zu Seina. Sie wusste zu gut, was ihre Freundin empfand. Sie selbst entwich dieser Qual nur, indem sie eine andere Qual akzeptierte. Regentage waren die schlimmsten Tage... Es war zu wenig Treiben auf den Straßen, als dass sie einen Diebstahl wagen könnten. Törichter zu handeln, war nahezu nicht möglich.

„Ich kann mich an gar keine Familie erinnern... Als hätte es sie nie gegeben. Anfangs war ich in einer Art Waisenhaus, aber selbst die Alte dort wusste nicht, wer mich vor der Tür abgesetzt hat. Ich lag eines Tages in einem Korb einfach da", erwiderte Raisa nun doch, um ihrer Freundin die nötige Ablenkung zu bescheren, die sie brauchte. „Ob meine Eltern noch leben? Ich weiß es nicht. Sollte ich es aber jemals herausfinden, dann werde ich sie für diese Behandlung bestrafen, das verspreche ich."

Until the last heartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt