Es war ein kühler Wintermorgen in Hyrule, auf den weiten grünen Wiesen, die um die prächtige Hauptstadt herum lagen, war der Tau gefroren, was den Anschein erweckte, die Landschaft wäre von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Der Himmel war von dicken Wolken verhangen, welche nicht einen einzigen jungen Sonnenstrahl auf das von den Göttinnen gesegnete Land hinab scheinen ließen, was das winterliche und vor allem frostige Ambiente nur untermalte.
Die große Uhr, die hoch oben am Turme der Kirche im östlichen Stadtteil von Hyrule-Stadt zu finden war, schlug in diesem Moment fünf. Zu dieser frühen Stunde befand sich selbst das alltägliche Regen und Treiben, der Metropole Hyrule-Stadt, noch in den Federn und ruhte. Die Straßen waren fast wie ausgestorben, hie und da fand man einen einsamen Reisenden oder einen zu früh geratenen Händler vor, doch das einzige Leben, dass so wirklich von der Hauptstadt ausging, wurde von den Soldaten, die pflichtbewusst durch die Straßen patrouillierten, verursacht.
Nun, ganz der Wahrheit entsprach dies auch wieder nicht. Es gab da noch zwei sehr aufgeweckte Kinder, die von Tatendrang nur so sprudelten und sich seit einigen Wochen die äußerst mühselige Aufgabe zu eigen gemacht hatten, herauszufinden, wo und wann die Soldaten Hyrules patrouillierten. Das Ziel der Kinder war ein streng bewachter Ort: die Waffenkammer der Soldaten Hyrules. Man konnte fast meinen, dass dieses Kämmerlein einen besseren Schutz erhielt, als das große Schloss Hyrule selbst. Und aus diesem Grund war es zwingend notwendig, dass sie eine günstige Gelegenheit abpassten, in welcher nicht allzu viele Soldaten direkt vor Ort waren.
„Ich halte fest: wir haben immer noch kein Glück. Selbst wenn es uns auf wundersame Weise gelingt, sie so sehr von ihrer eigentlichen Aufgabe abzulenken... Nein, es sind zu viele. So wütend kann man einen Haufen Soldaten gar nicht machen, dass nicht einer zurückbleibt und seinen Posten hält. Ich glaube, wir können uns das in die Haare schmieren", schnaubte die Rothaarige missmutig und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Abwarten", erwiderte die Braunhaarige schlicht und vor allem knapp. Ihre goldenen Augen hatten die Tür zu den Waffen genau fixiert, fast schon wie ein Raubtier, dass seine Beute nicht mehr aus den Augen ließ. Ganz gleich wie sehr ihre Freundin mit den roten Haaren diese Aktion für unmöglich hielt – die Braunhaarige glaubte nicht daran. Mit genug Willenskraft war ein jedes Ziel zu erreichen!
Raisa und Seina hatten von dem Wasserturm, auf welchen sie heimlich geklettert waren, eine äußerst gute Aussicht auf den westlichen Stadtteil von Hyrule-Stadt. So konnten sie nicht nur unter den unzähligen Häusern mit den blauen Dachziegeln die Waffenkammer ausfindig machen, es war ihnen auch möglich die Soldaten und ihre fest einstudierten Routen zu beobachten. Bereits vor Wochen hatten die beiden Straßenkinder den Plan ins Auge gefasst, zwei Schwerter aus der Waffenkammer zu stehlen. Dazu bedarf es im Wesentlichen lediglich einer äußerst guten Vorbereitung, denn die Soldaten waren auf Kinder wie sie nicht mehr sonderlich gut anzusprechen. Von ihrem Turm aus hatten sie reife Leistung hingelegt, was die Vorbereitung betraf: Sie wussten, zu welchen Zeiten, die wenigsten Soldaten in der Nähe der Waffenkammer waren. Das änderte nur nichts an dem Kernproblem, dass sich die Anzahl der dort fest positionierten Wachen nicht veränderte. Und sowohl Raisa, als auch Seina, waren nicht kreativ genug, um auf eine Lösung zu kommen, wie sie die Soldaten von dort geschickt weglocken konnte, ohne dabei selbst in den Fokus zu geraten. Daher musste eine wohl oder übel den personifizierten Lockvogel spielen.
Warum Raisa und Seina all diese Mühen auf sich nahmen, um an ein paar Schwerter zu gelangen? Oh, das führte zu einer langen Geschichte und einer ebenso langen Fehde: Im Groben und Ganzen konnte man davon ausgehen, dass es auf der Straße zwei Arten von Personen gab. Die einen, die es als ein kollektives Leid betrachteten und jenen, denen es noch schlechter erging als ihnen selbst – und solche armen Seelen gab es immer – hilfsbereit und respektvoll Trotz der eigenen prekären Lage gegenübertraten... Und es gab jene, die nach dem Prinzip 'fressen oder gefressen werden' lebten. Solche Leute gingen über Leichen, um das eigene Überleben zu sichern, sie nahmen jenen armen Seelen das wenige, was sie noch besaßen und bezeichneten diesen Prozess dann als natürliche Selektion.
Der Konflikt zwischen diesen beiden Lebensarten auf der Straße war dabei in die nächste Generation überzugehen. Ein paar Jugendliche, etwa zwei, drei Jahre älter als Raisa und Seina, hatten vor einiger Zeit einen Metzger überfallen und ihn um ein paar seiner Messer erleichtert. Bedauerlicherweise vertraten diese Kinder die Ansicht, die sie über Leichen steigen ließ... Und sie gewannen an Zuwachs, denn immerhin besaßen sie Waffen und das lockte in manchen Jugendlichen nicht nur die Gier und den Wunsch, es ihnen gleichzutun, hervor: auch Schmarotzer und Schutzsuchende schlossen sich ihnen an, immerhin bestimmten die richtigen Mittel, in diesem Fall Waffen, wer die Oberhand besaß – da spielte die Gesinnung auch keine Rolle mehr.
Raisa wusste von sich selbst, dass sie mit Sicherheit kein Messias war, auch kein Engel oder Samariter, doch sie würde sich nie dazu herablassen, sich an jene zu vergreifen, die schwächer waren als sie. Aus diesem Grund würde sie sich dieser Bande niemals anschließen. Bedauerlicherweise rückte diese Einstellung sie aber in den Augen dieser Kinder auf die andere Seite. Damit war sie ein Zielobjekt und Seina, die stets an ihrer Seite war, wurde somit auch zu einem. Aus diesem Grund brauchten sie Waffen. Sie mussten sich selbst verteidigen können! Ansonsten wäre es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis sie in diesem Winter das zeitliche segnen würden...
Die ursprüngliche Idee der beiden war es, zwei Soldaten um ihre Schwerter zu erleichtern. Bei ihren Beobachtungen mussten sie jedoch feststellen, dass die Soldaten, die Patrouille liefen, zumeist mit Lanzen bewaffnet waren. Und wenn dann tatsächlich mal ein Subjekt mit Schwert in ihr Blickfeld geriet, dann war dieses meist ein rostiger Zahnstocher. Sie waren dabei einen heiklen Diebstahl zu vollziehen, da musste die Beute auch den Anstrengungen und der Gefahr entsprechend etwas wert sein!
Was die Ausrüstung betraf, da spielten die Ritter Hyrules in einer anderen Liga. Jedoch, auch das mussten sich Raisa und Seina eingestehen, war deren Kampfkraft und Geschick ebenfalls erstklassig, weshalb sie es sich gleich aus dem Kopf schlagen konnten, auch nur davon zu träumen, einen Ritter Hyrules unbewaffnet überwältigen zu können. Somit blieb ihre letzte Option, sich in die Waffenkammer, geschützt von den Soldaten Hyrules, hineinzuschleichen. Auch keine rosigen Aussichten, doch machbarer als einen Ritter zu beklauen.
„Das kann nicht dein ernst sein! Die erwischen uns und dann hacken sie uns wirklich die Hände ab!", versuchte Seina ihrer besten Freundin ins Gewissen zu reden, nachdem sie bemerkt hatte, dass diese wirklich gehen wollte. Vor der Waffenkammer allein tummelten sich aber schon um die fünf Soldaten herum und wenn diese Alarm schlugen, brachte es auch nichts, dass sie einen ruhigeren Moment im Westend abgepasst hatten, dann würde eine ganze Meute hinter ihnen her sein. Für zwei Jugendliche unmöglich zu bändigen! „Nein, sie werden uns nicht die Hände abhacken. Höchstens mir", erwiderte Raisa ruhig. „Ich habe so etwas wie einen Plan, deshalb gehe ich und lenke sie ab. Von hier aus kannst du ja sehen, ob ich erfolgreich bin oder nicht. Wenn ja, dann...", Raisa lehnte sich zu Seina herüber, um dieser etwas ins Ohr zu flüstern. „Gut, und dann schleiche ich mich rein, ja?", fragte die Rothaarige sicherheitshalber noch einmal nach. Raisa nickte bestätigend.
„Wenn ich erfolglos bin, bleib einfach hier. Ansonsten versuche ich sie im Ostend loszuwerden." Die Braunhaarige war bereits aufgestanden, wurde jedoch von ihrer Freundin am Ärmel festgehalten. „Du willst das jetzt doch nur durchziehen, weil du ein Ensemble setzten willst, nicht wahr?! 'Seht her, ich bin Raisa und habe die Wachen Hyrules ausgetrickst! Ihr mit eurem mickrigen Messerraub könnt einstecken!'", sprach Seina aufgebracht und mit seltsam verstellter Stimme. Raisa entfuhr ein kurzes Prusten, während sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. „Absolut richtig."
Mit diesen Worten schwang sich Raisa über das Geländer des Wasserturms und rutschte an dessen Fassade hinunter zum Boden. In ihren Augen galt es keine Zeit mehr zu verlieren. Sobald dieses Städtchen erst einmal erwachte, würde es ihr nicht mehr so leicht fallen zu entwischen. Die Straßen und Gassen würden sich so sehr füllen, dass es kein vor und kein zurück mehr gäbe.
Seina, die immer noch hoch oben auf dem Wasserturm saß, blickte Raisa, die soeben von diesem Turm heruntergesprungen war, mit offenem Mund hinterher. „Sie ist jetzt vollkommen übergeschnappt... Wenn Hyrule die in den Dienst aufnehmen würde, dann hätte dieses Land eine Ein-Mann-Armee... Ach, das wird sowieso nie passieren", murmelte die Rothaarige vor sich hin, ehe sie sich wieder konzentrierte und Raisa von dem Turm aus beobachtete.
Diese lief nun durch die schmalen Gassen in Richtung des großen Tores, durch welches man Hyrule-Stadt im Westend verlassen konnte. Dort in der Nähe, wenn man die Hauptstraße verließ und den nicht gepflasterten Wegen zwischen den Wohnhäusern folgte, traf man auf einen ehemaligen Bodenspeicher, der bereits so alt war, dass die blauen Dachziegel, die ja in ganz Hyrule-Stadt verwendet wurden, mittlerweile verblichen waren. Dieser ehemalige Speicher wurde in heutigen Zeiten umfunktioniert und diente nun als Waffendepot – der Ort Raisas Begierde. Zwar mochten das Gemäuer und die gesamte Umgebung ein wenig schäbig wirken, doch bei ihren Observationen hatten Raisa und Seina eindeutig beobachten können, dass die Waffen, die hier gelagert wurden, astrein waren.
Raisa und die Soldaten, die Wache hielten, trennten jetzt nur noch wenige Meter. Sie hatte sich hinter einem Haus versteckt und lugte vorsichtig um die Ecke. Eine grandiose Schauspielerin war sie nicht, da war ihr Seina, die sogar auf Knopfdruck weinen konnte, um einiges voraus. Aber für ihr eigenes Schwert war sie bereit, kurzweilig über ihren eigenen Schatten zu springen. „Hilfe! Ihr müsst zur Hilfe eilen! Meine Mutter wurde auf der Hauptstraße von einem Mann mit Messer angegriffen", rief sie, während sie hinter dem Haus hervorkam und eilig auf die Soldaten zulief.
Etwas, was das Leben in dieser Stadt immer unerträglicher machte, ganz gleich für welche Bevölkerungsschicht, war die Tatsache, dass der immer währende Teufelskreis des Vertrauensbruches dafür sorgte, dass niemand mehr irgendwem über den Weg traute. Jeder galt als suspekt, schon von dem Moment an, indem die gleiche Luft geatmet wurde. Raisa hatte erkannt, dass sie Soldaten ihr nicht eine Sekunde ihrer Schmierenkomödie abgekauft hatten – es stand den Männern förmlich ins Gesicht geschrieben. Dabei hätte es sich bei jemand anderen als Raisa durchaus um die Wahrheit handeln können... Doch aufgrund des Vertrauensbruches, weil Leute wie sie mit derartigen Aktionen darauf abzielten, das Vertrauen zu missbrauchen, stumpften die Bewohner dieser Stadt immer weiter ab. Raisa war durchaus bewusst, dass sie dazu beitrug, diesen tiefen Riss in der Gesellschaft nur noch größer zu machen, doch das war auch nur die eine Seite der Geschichte. Immerhin handelte es sich um einen Teufelskreis, dessen Ursprung so weit in der Vergangenheit lag, dass niemand mehr bestimmen konnte, wer damals 'angefangen' hatte. Den Straßenkindern oder allgemein den Leuten auf der Straße wurde auch nur Abscheu entgegengebracht und da niemand einschritt, um dieses Leid zu beenden, mussten diese Leute auf irgendeine Art und Weise ihr Überleben sichern... Und wenn es nur durch das Ausnutzen von Vertrauen und das Missbrauchen von Gutmütigkeit möglich war...
Das und nichts anderes war das große Leid, mit welchem die so schöne und prosperierende Metropole Hyrule-Stadt im Verborgenen kämpfte. Im gleichen Maße, wie diese Stadt oberflächlich erstrahlte... Verdarb sie im Verborgenen.
„Du kleine Plage hast hier nichts verloren und wenn du nicht willst, dass wir dir den Hosenboden stramm ziehen, dann solltest du besser schnell von hier verschwinden. Verkriech dich wieder in das Loch, aus welchem du hervorgekommen bist!", wies sie einer der fünf Soldaten, die wache hielten, sogleich zurecht. „Aber wenn ich es doch sage, dort vorne auf der Straße...", versuchte Raisa es erneut und zeigte in Richtung der Hauptstraße. Im Grunde war es aber relativ für ihren Plan, ob man ihr Glauben schenkte oder nicht. Sie hatte Misstrauen von Anfang an vermutet und es mit einkalkuliert. Genau genommen lief es so sogar noch besser, denn einem der Soldaten wurde ihr gespieltes Gejammer zu viel. Offensichtlich war er jemand, der seine Macht gegenüber Schwächeren gerne zum Ausdruck brachte, so wie er mit grimmiger Miene auf sie zu kam und seine in Eisen gehüllte Hand zur Faust ballte.
„Du hast es gehört, Göre! Jetzt wird es ungemütlich für dich!", drohte der Soldat. Raisa spürte den Luftzug der schnellen Bewegung ihres Gegenübers an ihrem Kopf, jedoch konnte sie dem Hieb gerade so noch ausweichen. Dass sie nicht das erste Mal irgendwelchen Hieben ausweichen musste, kam ihr heute zugute.
Die junge Hylianerin forderte ihr Glück allerdings nicht zu sehr heraus. Bevor sie wirklich eine Tracht Prügel einstecken musste, machte sie auf dem Absatz kehrt. Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf ihre Lippen, während sie hinter der Ecke verschwand, in welcher sie vorhin bereits kurz gelauert hatte und in Richtung Hauptstraße lief. Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, da ertönte das Klimpern mehrerer Rüstungen hinter ihr, schwere Schritte hallten in den Gassen wider, sowie ein mehr als wütenderer Ruf: „Die Göre hat meine Schlüssel geklaut! Hinterher!"
Während Raisa von den Soldaten wegrannte, wartete Seina in einer der Gassen des Westends auf ihre Freundin. Denn das war es, was ihre Freundin mit dem braunen Haaren ihr zugeflüstert hatte. Sollte es ihr gelingen, die Wachen wegzulocken, dann sollte Seina in dieser bestimmten Gasse hinter einer Mauer auf sie warten. An die Fassade besagter Mauer gepresst, betete die Rothaarige, dass Raisas Verfolger sie nicht bemerkten und einfach weiter laufen würden. Obwohl sie nichts sah, hörte sie bereits das Rasseln der Rüstungen, die vielen schweren Schritte auf dem Boden und natürlich auch die Rufe der Soldaten. Ehe sie sich versah, rauschte Raisa an der Mauer vorbei, warf ihr die Schlüssel, die sie stibitzt hatte, entgegen und zwinkerte der Rothaarigen noch einmal zu. Seina, noch immer etwas überrascht, wartete mit klopfendem Herzen, bis die vielen Soldaten in Raisas Schlepptau, die sich in der engen Gasse beinahe gegenseitig überrannten, ebenfalls an ihr vorbei waren.
Seina erfüllte nun ihre Aufgabe, sie machte sich auf den Weg zu dem Waffendepot, wo sie nun ohne große Schwierigkeiten hineinkommen dürfte. Raisa hingegen durfte nun die ehrenvolle Aufgabe erfüllen, sich zu überlegen, wie sie ihre Verfolger, die Soldaten Hyrules, loswerden würde. Zwar hatte sie Seina gesagt, dass sie einen ungefähren Plan besäße, jedoch war das Wörtchen 'ungefähr' ziemlich auslegbar. In Wirklichkeit musste sie alles ab dem Punkt des Weglaufens improvisieren.
So war die Braunhaarige schon seit sie denken konnte. Zur Hälfte durchdacht, zur Hälfte improvisiert – sie würde einen gammeligen Besen fressen, wenn sich dies in Zukunft einmal ändern würde. Sie und durchdachte Pläne konnten nur in einem Satz auftauchen, wenn dazwischen ein 'besaß keine' vorzufinden war.
Spontanität in allen Ehren, Raisa musste jedoch sehr bald etwas einfallen, sonst würde das ganze nur in Hochmut und Überschätzung enden, denn ihre Verfolger wurden immer zahlreicher und lauter, was dazu führte, dass nur noch mehr Soldaten aus sie aufmerksam wurden. Die Soldaten waren ein Punkt, ihre eigene Konstitution würde eine ewig lange Verfolgungsjagd auch nicht mehr mitmachen. Ihr ging die Puste aus, um genau zu sein, brannten ihre Lungen bereits von der Lauferei, in ihren Waden zog es kräftig und von den Seitenstichen wollte sie gar nicht erst anfangen.
Raisas Hoffnungsschimmer war die alte Kirche im Ostend. Die dort lebende Nonne hatte schon unzählige Male Gnade mit den Straßenkindern gehabt und diese in einer Kiste im Lagerraum versteckt, wenn sie wieder einmal etwas geklaut hatten und auf der Flucht waren – eine ordentliche Schelte gab es am Ende trotzdem noch.
Ihr Weg zur Kirche wurde jäh unterbrochen und fand ein schnelleres Ende, als ihr lieb war. Die Wege durch die Wohnviertel des östlichen Stadtteils waren genauso wie im Westen nicht gepflastert. Gerade dies wurde der jungen Hylianerin zum Verhängnis, denn auf dem sonst feuchten und matschigen Weg hatte sich aufgrund der niederen Temperaturen hie und da eine dünne Eisschicht gebildet. Und als sie das nächste Mal scharf um eine Ecke bog, um die Soldaten hinter sich abzuschütteln, rutschte sie auf dem glatten Eis geradewegs aus und fiel zu Boden.
Die Soldaten, die nur wenige Meter hinter Raisa herliefen, sahen zwar nicht, wie die Hylianerin hingefallen war, doch hatten sie sich eine andere Falle ausgedacht, um das Mädchen einzufangen. So hatten sich einige Soldaten von der Gruppe getrennt, um von der anderen Seite in die Straße zu laufen. Schnaubend, wie alte Rösser die man zu lange angetrieben hatte, aber dennoch siegessicher und triumphierend kamen sie um die Ecke gelaufen, um das Straßenkind einzufangen. An Ort und Stelle war nur keine Raisa mehr zu finden, lediglich drei junge Soldaten, die mit den Achseln zuckten und genauso ratlos dreinblickten, wie der Rest. „Verteilt euch, sie muss hier irgendwo sein! Und bringt mir in Hylias Namen meine Schlüssel wieder!"
Raisa hatte Glück im Unglück – zumindest objektiv betrachtet. Als sie ausgerutscht war, war sie bis zum Eingang der Kanalisation geschlittert. Da die Treppe zu dieser hinab jedoch ebenfalls vereist war, war sie auch diese hinuntergefallen und schlussendlich mit dem Rücken auf den harten Stein der Brücke gefallen, die über die Abwässer führte. Sie musste zugeben, in diesem Moment wusste nicht, was sie schlimmer fand: den bestialischen Gestank, der sie umgab oder die Tatsache, dass sie all diese Schmerzen hinnehmen musste, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben, da ihr Versteck sonst aufgeflogen wäre. Die Stimme des Soldaten hatte sie nämlich selbst von dort unten noch vernehmen können, doch Hylia sei gedankt, selbst für die Schlüssel würde sich niemand auf den Weg zu ihr hinab in die Kanalisation freiwillig begeben. Sie selbst wäre fast lieber weiter weggelaufen, als nun an Ort und Stelle zu liegen. „Das nächste Mal... Darf Seina die Drecksarbeit machen. Im wahrsten Sinne des Wortes", murrte sie während sie den Blick starr auf die halbrunde Decke gerichtet hatte.
Da Raisa sicher gehen wollte, dass die Soldaten die Suche nach ihr vorerst aufgegeben haben und sie nicht direkt ansprangen, sobald sie wieder an der Oberfläche auftauchte, musste sie noch eine ganze Weile in ihrem überaus unschönen Versteck verharren, bis sie sich mit Seina wieder auf dem Wasserturm treffen konnte. Da sie sonst nur Däumchen drehen konnte, bahnte sie sich einen Weg durch das Kanalisationssystem, um an einem anderen Ort – bestenfalls im Westend – wieder aufzutauchen.
„Da bist du ja endlich! Weißt du, wie lange ich gewartet habe? Dachte schon, sie hätten dich erwischt", begrüßte Seina ihre Freundin, nachdem diese die Leiter zum Wasserturm hinaufgeklettert kam. „Dann hättest du dich nicht mehr 'Hyrules Blitz' nennen dürfen, die 'weltbeste Wegläuferin'", lachte Seina keck. Allerdings blieb ihr das Lachen schneller im Hals stecken, als sie gucken konnte und wurde mit äußerst unschönen Würgegeräuschen ersetzt. In Raisas Ohren kam dieses Würgen Musik gleich – das wunderschönste, was ihre Ohren in diesem Moment nur vernehmen konnten, begleitet von einer tiefen inneren Zufriedenheit. Zumindest gab es damit eine kleine Retourkutsche. „Du stinkst, als wenn dir der Tod aus dem Hintern gekrochen wäre!", rief die Rothaarige angeekelt und hielt sich die Nase zu. „Als wenn du in Aas gebadet hättest!", fuhr sie fort. Raisa verdrehte die Augen und setzte sich, wenngleich mit Abstand, zu ihrer Freundin hin. „Die wollten mir die Kauleiste tiefer legen, da musste ich Opfer bringen." Dass sie in die Kanalisation unfreiwillig gefallen war, würde sie aber für sich behalten.
„Sag mir bitte, dass der ganze Aufwand nicht für die Katz war und du etwas Gutes geklaut hast?", wandte sie sich schließlich an Seina, die noch nichts zum Erfolg oder Misserfolg des Diebstahls gesagt hatte. „Also... Ehm", druckste die Rothaarige herum und tippte ihre beiden Zeigefinger aneinander. Sie mied sogar den Blickkontakt mit der Braunhaarigen. Raisa ließ sich rücklinks an das Geländer fallen und seufzte tief. „Ich will diesen Tag für alle Zeiten aus meinem Gedächtnis streichen..."
Seina zog die Mundwinkel hoch und stieß Raisa mit dem Ellenbogen leicht gegen den Arm. „Ich hab dich wieder drangekriegt", flötete sie zufrieden und zog die beiden Schwerter, die sie an ein Seil gebunden vom Turm hatte baumeln lassen, wieder zu sich hoch. Raisas Stimmung wechselte von beinahe niedergeschlagen zu eindeutig genervt. Ihre Lippen presste sie zu einem Strich, ihre Augenbrauen waren zusammengezogen und ihre Augen verengt. „Sehr witzig", murrte sie. Die Erleichterung über den Erfolg konnte sich nicht so wirklich durchringen. Seinas Schauspielkünste waren einfach zu glaubwürdig. „Naa, ist da jemand griesgrämig?", zog die Rothaarige sie weiter auf. Raisas Mundwinkel zuckte ein wenig. „Ich glaube, was du grade brauchst, ist ein wenig Kloakenduft", erwiderte sie und fächerte mit ihren Händen die Luft von sich hinüber zu ihrer Freundin, die kurz darauf erneut würgte.
Wie trostlos wäre ihre Welt, wenn es diese kleinen Sticheleien nicht gäbe...
„Jetzt zeig her", forderte Raisa sie nach einer kurzen Weile erneut auf. „Ach ja...", gab Seina erstickt von sich, während sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Vor den beiden lagen nun zwei Schwerter, die so sonderbar und einzigartig aussahen, dass sie die Mühen des heutigen Tages vergessen ließen. Eines der beiden Schwerter hatte einen weißen Griff, die Parierstange war geschwungen und erinnerte an kleine Flügel. Die Klinge war sehr schmal und ermöglichte dadurch wohl sehr schnelle Hiebe. Das andere Schwert hatte die Größe eines gewöhnlichen Einhänders, im Knauf war ein Rubin, so rot wie der Griff und die Parierstange sah mit etwas Fantasie aus wie eine umgedrehte Schleife.
„Dann ist ja alles klar", sagte Seina schmunzelnd. Raisa zog daraufhin nur eine Augenbraue hoch. „Na, rot ist meine Farbe. Du bekommst das andere", lachte sie keck. „Von mir aus", erwiderte die Braunhaarige schulterzuckend. Ein Schwert war ein Schwert, ganz gleich welche Farbe es besaß. „Wer weiß, vielleicht machen uns diese Schwerter eines Tages ja doch noch zu berühmten Kriegerinnen", träumte Seina vor sich hin und warf dabei ihre rote Mähne zurück.
Raisas Mundwinkel zuckten leicht hoch. Für jemanden, der nichts außer seinen eigenen Namen besaß, war es eine schöne Vorstellung so berühmt zu werden, dass dieser Name im ganzen Königreich bekannt war. Andere wurden bekannte Maler oder Schriftsteller, vielleicht wurde sie ja eine berühmte Schwertkämpferin? Sie zog die Klinge aus der Schwertscheide, sodass sich in dieser ihre goldenen Augen widerspiegelten. Ja, die schnellste Schwertkämpferin Hyrules... Das wäre schon was.
Jahrhunderte später, nach so vielen Ereignissen, dass nicht einmal ein Leben mehr für diese ausreichte, stand Raisa in dem kleinen Rüstungsladen im Dorf der Zoras. Ihr Weg zu einer berühmten Kriegerin, besser gesagt zur schnellsten Schwertkämpferin Hyrules hatte sie Höhen und Tiefen durchleben lassen, doch sie war letztlich das geworden, wovon sie seit diesem Tag an geträumt hatte. Viel mehr noch, man nannte sie Recke, eine Heldin...
Raisa hatte den Zora am Arm gepackt, der die Unverfrorenheit besaß, ihr dieses Schwert, das bereits neugeschmiedet und ebenfalls Jahrhunderte überdauert hatte – ihren wohl wertvollsten Besitz – wegzunehmen. „Sofort hergeben", knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Tränen wurde oftmals mit Schwäche assoziiert, da sie der sichtbare Beweis waren, dass man seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatte, doch Raisa mit ihren vor Wut weit aufgerissenen Augen, in denen sich Tränen aufgrund dieser Erinnerungen gesammelt hatten, sah dadurch aus, als stünde sie kurz davor jemanden umzubringen. Von Schwäche fehlte bei ihr jede Spur.
Der junge Zora, der die Hylianerin um einiges überragte und die Welt nicht mehr verstand, schluckte nur und hielt der Braunhaarigen ihr kostbares Eigentum wieder entgegen. „V-Verzeiht mir, ich war nur neugierig geworden, das ist der Laden meines Großvaters und in einem alten Buch... Ich meine, was ich zagen wollte, dieses Schwert... Alzo es erinnert mich an das Schwert des Recken der Hylianer. Ich wollte nur zehen...", versuchte er sich zu entschuldigen. Raisa atmete tief ein und aus, ließ die Hand des Zoras wieder los und griff noch immer zornig nach ihrem Schwert, um es wieder wegzustecken.
„Das ist keine Rechtfertigung", knurrte sie. Diesem Zora würde sie nun die Hölle heißt machen.
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Until the last heartbeat
RomanceJahrhunderte vergingen, seit die Recken im Kampf gegen die Verheerung fielen. In diesen Jahrhunderten herrschte nichts als Frieden, was den einstigen Kampf immer mehr in Vergessenheit geraten ließ. Bis zu dem Tag, an dem eine Weissagung die erneute...