Kapitel 15 - Der Wald - Die Suche

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Melanie erklärte mir, dass die Gang scheinbar nicht hinter der Entführung ihres Bruders steckte und sie wahrscheinlich auch nicht schuld an unseren Gedächtnisverlusten gewesen waren. Ich wollte erst nicht glauben, dass Kevin und John mir nur Angst machen wollten, einfach zufrieden nach Hause gegangen waren, als sie dieses Ziel erreicht hatten und ich angsterfüllt in den Wald gerannt war. Ich musste nun abwägen, ob ich Melanie Vertrauen schenken würde. Aber mein Vater hatte schließlich auch ausgeschlossen, dass die Gang dahintersteckte.

"Und wie soll es jetzt weitergehen? Du hast bereits die ganze Stadt abgesucht und unser einziger Anhaltspunkt war diese Gang!", fragte ich Melanie.

Ich hatte ihr nach der Schule gleich einen ganzen Klamottenberg vorbeigebracht und auf das Gästebett meiner Großeltern gelegt. Außerdem hatte ich ihr eine Taschenlampe und eine Camping- Laterne besorgt, damit sie abends nicht völlig blind war. Nun saßen wir zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer und machten eine Strategiebesprechung um den fragwürdigen Geschehnissen in dieser Stadt auf den Grund zu gehen.

"Mina, du bist ein Genie! Ja, ich habe die ganze Stadt nach Adrian und diesem Teufelskerl abgesucht! Aber weißt du wo ich noch nicht gesucht habe? Na, was ist der kleinste gemeinsame Nenner?", fragte Melanie.

Na klar: Der Wald. Dort in der Nähe wurden doch die meisten Menschen ohne jegliche Erinnerung an die Geschehnisse der vorherigen Nacht aufgefunden! Melanie und ich sind in den Wald hineingerannt und von da an konnten wir uns an nichts mehr erinnern. Ob die Vermissten auch dort versteckt worden?

Melanie stand sofort auf, lief in den Flur und zog sich Schuhe und Jacke an. Schuhe mussten wir ihr wohl auch neue besorgen. Ihre waren von einer dicken Schmutzschicht überzogen, hatten Löcher und ihre Sohlen lösten sich bereits.

"Was? Jetzt sofort?", ich war etwas von ihrem Tatendrang überrascht.

"Na klar! Wenn nicht jetzt, wann dann?", antwortete sie und rannte schon fast aus der Hintertür hinaus, als ich noch perplex im Flur stand.

Dann zog ich mich auch an und rannte hinterher.

Schon lange war ich nicht mehr in den Wald gegangen, mal abgesehen von der Flucht in den Wald in jener Nacht. Die Nachmittagsonne schien durch die grünen Blätter der Laubbäume und es lugten kleine blaue Flecken Himmel durch das Blätterdach hervor. Bäume und Böden waren mit Moos und Efeu überzogen und stellenweise lag noch braunes Laub vom letzten Herbst. Wir folgten einem der Trampelpfade in den Wald hinein, wobei so mancher Zweig unter unseren Füßen zerknirschte. Ich roch die frische Waldluft, hörte Vogelgezwitscher von nah und fern und hielt nach dessen Ursprung Ausschau.

"Vergiss nicht, warum wir hier sind! Wir müssen meinen Bruder finden und keine Vogelarten analysieren", erinnerte mich Melanie.

"Gibt es hier vielleicht irgendeine Hütte oder eine andere Versteckmöglichkeit?", fragte sie.

Ich überlegte, doch mir fiel nichts ein. Der Wald hier war nicht sonderlich besucht, da er am Stadtrand lag. Das einzige, was im Wald verborgen lag, waren die Überreste einer alten Burgruine. Lediglich ein paar große Steine davon lagen noch im Wald herum. Als Kind hatte ich mit einer Schaufel nach alten Burgschätzen gegraben, blieb jedoch erfolglos. Besonders tief war ich auch nicht in die Erde eingedrungen, da der Boden entweder zu fest war oder ich zu schwach.

Ich schüttelte den Kopf und so suchten wir planlos im Wald herum. Irgendwann entdeckte ich die kleine Waldlichtung, auf welcher ich damals immer mit meiner Großmutter auf ihrer rot karierten Picknickdecke gesessen hatte um mit ihr so manche Leckereien aus dem Picknickkorb zu verspeisen, Blumenkränze zu flechten oder einfach die Sonne zu genießen. Manchmal hatte sie mir auch etwas aus ihrem dicken Märchenbuch vorgelesen, später nahm ich mir meine eigenen Bücher mit hierher. Ich bildete mir ein, wie sie mit ihren Händen über meinen Kopf streichelte und hatte ihre weiche liebevolle Stimme in den Ohren.

Verträumt ließ ich mich auf der Lichtung nieder und auch Melanie setzte sich. Die Lichtung war von verschiedenen Blumen und Gräsern bedeckt. Ein sattes Grün mit verschiedenen bunten Farbtupfern. Ich zupfte mir die ersten drei Gänseblümchen heraus und begann diese miteinander zu verflechten.

"So richtig anwesend bist du auch nicht, oder? Wie sollen wir Adrian finden, wenn du die ganze Zeit in den Himmel starrst und ich mich hier absolut nicht auskenne?", fragte Melanie und holte mich damit in die Gegenwart zurück.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir schon hier waren. Bestimmt hatte Melanie schon eine ganze Weile gesucht, währenddessen ich nur körperlich anwesend war und mein Geist die Vergangenheit besucht hatte.

"Es tut mir leid, Melanie. Mit dem Wald verknüpfe ich alte Erinnerungen, die mich gerade mitgerissen haben. Ich versuche mich jetzt wirklich zu konzentrieren, okay? Wollen wir weitersuchen?", fragte ich.

Sie nickte und wir standen wieder auf. Ich warf meinen angefangenen Blumenkranz zurück ins Grün und nun war ich ganz bei der Sache. Wir schauten in alle Richtungen, sahen nach Versteckmöglichkeiten und suchten kreuz und quer eine große Fläche des Waldes ab. Irgendwann fing Melanie an, Adrians Namen zu rufen, wobei sie immer lauter wurde und verzweifelter klang. Auch ich stimmte mit ein und so schrien wir den Wald gemeinsam zusammen. Irgendwie war es befreiend für mich, einfach mal laut loszuschreien.

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt