~ Melanie ~
Fünf Jahre lang waren die Leute nur an uns vorbeigegangen. Fünf lange Jahre warfen uns die Leute verachtende Blicke zu, schauten gekonnt weg oder beschimpften uns. Doch dann kam sie...
Ich hätte mir nie erträumen lassen, dass irgendjemand so ein großes Herz haben würde, um mich nicht bloß zu übersehen oder Mitleid mit mir zu haben, sondern mich sogar bei sich aufzunehmen, mich freigiebig zu finanzieren und mir zu helfen, wieder durchzustarten. Mina war mein Neuanfang, sie ließ die Hoffnung auf ein besseres Leben in mir aufblühen. Niemand hatte je etwas über meine Vergangenheit wissen wollen, keiner wollte tiefer schauen. Doch Mina war anders, sie vergaß die Oberflächlichkeit und das war auch der Grund, warum ich ihr meine Geschichte offengelegt hatte. Aber ihre Idee meinen Vater zu besuchen, gefiel mir ganz und gar nicht, denn seitdem wir ihn verlassen hatten, war ich nicht mehr bei ihm gewesen. Bewusst waren wir per Fußmarsch mehrere Orte weitergezogen, damit die Wahrscheinlichkeit eines Wiedersehens verringert wurde.
Die Straße hatte mich in all dieser Zeit geprägt und verändert. Sie hatte mich misstrauisch gegenüber den Menschen gemacht und mir alles genommen, sogar das Wichtigste auf der ganzen Welt für mich: meinen Bruder, der mich mein Leben lang mit all seiner Kraft und Hingabe unterstützte und beschützte. Am Anfang meines Lebens auf der Straße, hatte ich oft geweint und dann schloss er mich in seine starken Arme und er schaffte es tatsächlich immer, mich zu beruhigen. Manchmal schlief ich dann seelenruhig ein und alles war zwar nicht wieder gut, aber um einiges besser. Die Straße war vor allem nachts oft ein unheilvoller Ort, der mir Angst bereitete, doch bevor es dunkel wurde, kam Adrian jeden Abend zu mir und meine Angst löste sich langsam auf.
Ein einziges Mal belagerte mich so ein schmieriger Typ, der scheinbar mehr von mir wollte und er wirkte abgesehen davon auch so, als wäre er nicht mehr bei Sinnen. Entweder war er unter Drogeneinfluss oder Alkohol und er fasste mit einem seiner langen Finger unter mein Kinn, schob meinen Kopf nach links und rechts und streichelte über meine Wange, während er auf mich einredete. Ich wehrte mich nicht, meine Glieder waren angespannt, ich rührte mich nicht vom Fleck und war unter Schock. Doch Adrian kam mir zu Hilfe und zog den Unbekannten von mir weg. Ich weiß noch genau, wie er zu Adrian sagte:
"Die Kleine sieht doch so aus, als könnte sie mal ein bisschen Spaß gebrauchen oder willst du etwa auch ran bei ihr?"
Dann setzte es bei Adrian aus, er schlug den Unbekannten und schrie ihn an, bis er das Weite suchte.
Bei der Erinnerung an diesen Typ, schüttelte es mich und der Ekel stieg in mir empor. Ich weiß nicht was der Mann mit mir angestellt hätte, wenn Adrian nicht gekommen wäre.
Schmerzlich wurde mir eine Tatsache bewusst: Adrian hatte mich immer beschützt, aber ich war in der einzigen Situation, wo er meinen Schutz gebraucht hätte, einfach weggerannt.
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Nachdem ich die ganze Nacht nach dem Gespräch mit Mina über meine Vergangenheit nicht richtig schlafen konnte, da mich meine Gedanken und Schuldgefühle nicht losließen, machte ich mich nun fertig für meine Vorstellung bei der alten, unterstützungsbedürftigen Dame. Ich zog eine rote Bluse und eine beigefarbene Dreiviertelhose von Mina an und band meine Haare zu einem Pferdeschwanz. Auch wenn sich einige ältere Leute, nach meinen Erfahrungen, an Piercings störten, ließ ich meinen Nasenring drin, denn er war einfach ein Teil von mir und meiner Vergangenheit, den ich nicht ablegen wollte.
"Geht das so?", fragte ich Mina und posierte vor ihrer Nase herum.
"Das Outfit ist supersexy, aber ich muss wohl nochmal den Schminkkoffer meiner Mutter holen", sagte sie und dampfte ins Bad ab.
Ich ließ mich auf Minas Bett fallen und betrachtete die Bilder von ihr in dem großen Rahmen an der Wand. Mina und ihre Familie sahen so glücklich aus und die Bilder, auf denen Mina noch kleiner war, erinnerten mich an meine, damals noch unbeschwerte Kindheit.
"Süß war ich oder?", fragte sie mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und sie hielt einen riesigen silbernen Koffer in der Hand. Oh man... was hatte sie mit mir vor? Ich wollte nicht verunstaltet werden...
"Du warst damals schon wie ein kleines Model", gab ich zum besten und bildete mir ein, eine dicke Schleimspur auf dem Bett zu fühlen.
Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, wobei sich ihr Kleid wie das Tutu einer Ballerina nach oben hin aufblähte. Irgendwie schaffte Mina es mit ihrer unbeschwerten Art, mich aufzumuntern.
"Na komm her mit deinem Gesicht, damit ich Frankenstein aus dir machen kann!", sagte Mina nachdem auch sie sich auf dem Bett niedergelassen hatte und streckte mir ihren Schminkpinsel entgegen.
"Da passen die Klamotten, die du für mich ausgesucht hast aber überhaupt nicht dazu. Also mit der Karriere als Stylistin wird es wohl nichts, da muss ich dich schon mal enttäuschen!", gab ich zurück und Mina schaute mich gespielt böse an, woraufhin wir uns ein Blickduell vom Feinsten lieferten.
"Jetzt ist aber Schluss mit dem Gelächter, sonst werde ich nie damit fertig, dich zu verunstalten!", meinte Mina und als wir uns beruhigt hatten, malte sie mit dem feuchten Pinsel an meinen Augen herum. Danach ging sie nochmal mit einem Schwamm darüber und ich musste niesen, da etwas von dem Make- Up- Pulver hinab rieselte und in meiner Nase kitzelte. Dann deutete mir Mina, dass ich ins Bad gehen sollte um mich zu betrachten.
Eins musste man Mina lassen, das Make- Up passte haargenau zu meiner Hautfarbe und machte meine dunklen Augenringe unsichtbar.
"Und ich dachte du machst mich auch mal ein bisschen schön und nicht nur Schadensbegrenzung", sagte ich und versuchte beleidigt zu klingen.
"Dafür möchte ich aber bar bezahlt werden, also frag nochmal nachdem du deinen ersten Lohn bekommen hast!", kicherte sie.
"Dafür müsste ich erst mal genommen werden!"
"Wer könnte dir in diesem perfekt kombinierten Outfit schon widerstehen?"
Ich war froh, dass das Versteckspiel für ein paar Wochen vorbei war, da Minas Eltern heute Morgen in aller Frühe zum Flughafen gefahren waren. So konnte ich in Minas Zimmer rumlungern ohne mich heimlich ins Haus schleichen zu müssen und konnte quer über den Hof stolzieren ohne mir darüber Gedanken machen zu müssen, gesehen zu werden. Mina und ich schnappten uns die Fahrräder und fuhren damit in die Stadt und ich musste zugeben, dass ich ein wenig aufgeregt war.
"Du schaffst das!", sagte Mina, als wir vor der Zahnarztpraxis standen und sie behielt recht.
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Die flüsternden Bäume
Fantasy'Wo Liebe ist, wird das Unmögliche möglich. ' ~~~ "'Renn um dein Leben', schrie meine innere Stimme. Ich müsste nur über die Wiese laufen und würde dann zum Pfad in Richtung Wald gelangen. Dort kannte ich mich verdammt gut aus, wenn auch nicht im Du...