Kapitel 30 - Der Wald - Geschwisterfreuden

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"Was ist gestern passiert?", fragte mich Melanie am nächsten Morgen. Draußen war es zwar noch nass, doch der Regen hatte aufgehört und wurde vom Sonnenschein abgelöst, der nach und nach die Wiesen trocknete. Mir ging es bedeutend besser als gestern und ich war heilfroh den Sonnenstich weitestgehend überstanden zu haben, auch wenn er seine Spuren hinterlassen hatte. Mein Gesicht und meine Schultern waren schrecklich rot und heiß, sodass ich den Blick in den Spiegel möglichst vermied, um mich nicht die ganze Zeit aufzuregen.

"Ich habe keine Ahnung... Meine Erinnerung ist gelöscht, wie sollte es auch sonst sein? Aber dafür haben wir ja dich an der Bank positioniert. Also, wie bin ich dorthin gekommen?", fragte ich neugierig.

"Ich weiß es nicht", antwortete Melanie verlegen und schaute auf den Boden.

"Oh nein, du bist eingeschlafen!"

"Nein bin ich nicht!", gab sie zurück.

"Gib es wenigstens zu!", forderte ich Melanie auf.

"Da gibt es nichts zuzugeben! Ich glaube nicht, dass ich eingeschlafen bin, denn ich war gar nicht müde und habe die ganze Zeit über gut aufgepasst!"

"Was heißt denn du 'glaubst'? Und wenn du nicht eingeschlafen bist, musst du doch gesehen haben, wie ich zurückgekommen bin! Aber das hast du nicht, stimmt's?"

"Nein, das habe ich nicht", gab sie kleinlaut zu und es herrschte betretenes Schweigen zwischen uns.

Ich dachte noch einmal scharf nach und mein Kopf analysierte zwei mögliche Gründe, warum sie nicht gesehen hatte, wann und wie ich zurück an den Waldrand gekommen war.

"Was ist wahrscheinlicher, dass du eingeschlafen bist oder dass die Täter sich auch an dir zu schaffen gemacht haben?"

"Ich glaube wirklich nicht, dass ich eingeschlafen bin!", betonte Melanie noch einmal.

"Okay... Das macht das Ganze umso aussichtsloser und unkontrollierbarer. Sie scheinen jeden anzugreifen, der ihnen in irgendeiner Weise auf die Schliche kommt. Scheinbar sind unsere Täter unberechenbarer, als wir dachten."

"Das ist doch alles total abgespaced! Warum tun uns die Täter nichts, aber rauben uns unsere Erinnerungen? Was haben sie davon?", rief Melanie verzweifelt aus.

Ich überlegte eine Weile, denn Melanies Frage war mehr als berechtigt. Schließlich fing ich an, laut zu denken:

"Scheinbar sehen wir etwas im Wald, was wir nicht sehen sollen und deshalb werden uns die Erinnerungen daran genommen..."

"Aber im Wald ist doch nichts und niemand von den entführten Personen! Wir haben doch alles bis aufs Kleinste abgesucht!"

"Vielleicht sind sie doch dort nur, dass wir ihnen aus irgendeinem Grund nur Nachts begegnen", spekulierte ich.

"Klingt ziemlich verrückt...", bemerkte Melanie.

"Das ist es auch!"

"Aber auch wenn nur die geringste Chance besteht, dass ich Adrian im Wald begegnen könnte, muss ich dahin! Noch heute Nacht!", sagte Melanie plötzlich.

"Okay, ich bin dabei. Was haben wir schon zu verlieren?"

"Ach, nur dir Erinnerung!", machte Melanie mit übertriebener Mimik und Gestik deutlich.

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"A-D-R-I-A-N!", schrie Melanie durch den ganzen Wald, als wären die lauten Klageschreie und die unheimlichen Bewegungen der Bäume in der Dunkelheit nicht schlimm genug. Melanie zog mich an meinem Arm hinter sich her und ohne sie wäre ich wahrscheinlich zweifelnd in mir zusammengesunken. Ich weiß nicht, ob sie auch an ihrem Verstand zweifelte, aber sie schien es gut zu verbergen. Melanie lief rufend im Schnellschritt quer durch den Wald und ich schleifte atemlos hinter ihr her, bis sie unerwartet eine Antwort bekam.

"H-I-E-R!", schrie eine raue Männerstimme aus einiger Entfernung. Die Klageschreie waren mittlerweile etwas abgeklungen.

"Hast du das gehört?", fragte sie mich und ich nickte lautlos. Melanies Stimme überschlug sich fast, als sie mir erklärte:

"Das war Adrian! Ich weiß es!"

Sie rannte mir voraus in die ungefähre Richtung, aus der der Schrei ertönt war und rief wieder seinen Namen. Ich hatte Probleme damit, Schritt zu halten und als ich sie eingeholt hatte, lag sie bereits einem nackten jungen Mann in den Armen. Adrians Gesicht sah dem auf dem Foto, was ich noch in wager Erinnerung hatte, ähnlich: markant, aber nun etwas älter. Mir fielen besonders seine buschigen dunklen Augenbrauen und seine schmalen geradlinigen Lippen auf. Er hatte breite Schultern, eine kräftige muskulöse Statur und ich würde sagen, alles in allem stimmte das Gesamtpaket. Es war, als hätte sich eine Trennwand zwischen uns aufgetan, durch die mich die beiden nicht wahrnahmen, denn sie lagen sich lange in den Armen und merkten gar nicht, dass ich sie anstarrte. Irgendwann räusperte ich mich, Adrian hob seinen Kopf in meine Richtung und musterte mich, bis er erstaunt sagte:

"Was machst du schon wieder hier? Kennst du sie, Melanie?"

"Dasselbe könnte ich wohl jetzt zurückfragen", spielte Melanie den imaginären Ball zurück.

"Ja, sie war schon öfter hier im Wald und ich habe sie zweimal von hier weggebracht."

"Du hast mich am Waldrand abgelegt?", meldete ich mich empört zu Wort.

"Dann darf ich mich wohl jetzt bei dir bedanken, dass ich einen Sonnenbrand mit gratis Stich hatte, weil du mich gestern Morgen am Waldrand im Gras abgelegt hast!"

Ich weiß nicht warum ich so wütend auf ihn war. Vielleicht war ich es nur, weil ich einen Sonnenstich davongetragen hatte oder weil ich den Zusammenhang hinter allem noch nicht durchblickte oder beides gleichzeitig.

"Gestern morgen? Da habe ich dich nicht aus dem Wald getragen und ich habe dich auch nie ins Gras gelegt sondern stets auf die Bank", erklärte Adrian in einem ruhigen Ton.

Und wem hatte ich nun meinen Sonnenbrand zu verdanken?

Wer hatte mich denn gestern auf die Wiese gelegt?

Was ging hier nur vor sich?

"Und woher kennt ihr euch?", fragte Adrian ein zweites Mal und unterbrach damit meinen Gedankengang.

"Lange Geschichte!", sagten Melanie und ich zeitgleich.

"Wir haben noch ein wenig Zeit bis die Nacht vorbei ist, damit ich mir die Geschichte anhören kann!", sagte Adrian interessiert und wir erzählten ihm die Geschichte, wie wir uns kennengelernt hatten und gemeinsam auf die Suche gegangen waren.

"Schon bald wird es wieder Morgen, ihr müsst gehen!", sagte Adrian schließlich.

"Lass mich raten, wir werden uns nicht mehr an die Nacht und dich erinnern können, wenn der Morgen naht?", fragte Melanie.

"Ja, leider..."

Verzweifelt und schnell kramte Melanie einen Zettel und Stift aus ihrer Hosentasche, die sie vorher schlauerweise eingepackt hatte und gab es an Adrian weiter, der sie fragend anschaute.

"Schreib einfach irgendwas darauf, damit ich weiß, dass ich dich hier getroffen habe und ich wiederkomme!", forderte sie ihn auf.

Er krakelte schnell etwas auf den Zettel, faltete ihn zusammen und gab ihn zusammen mit dem Bleistift an Melanie zurück.

"Ich bringe euch noch ein Stück!", sagte Adrian und zeigte auf den Pfad, der uns wieder aus dem Wald hinausführen würde. Er lief hinter uns, doch auf dem halben Weg sah ich, wie Melanie zusammenbrach und dann wurde auch mir schwindelig und schwarz vor Augen.

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt