Kapitel 19 - Tränendes Herz

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"Wo ist eigentlich Martha? Ich habe sie schon den ganzen Tag nicht mehr gesehen und zum Füttern ist sie auch nicht aufgetaucht", fragte meine Mutter am nächsten Tag in die Runde.

Mein Vater hatte Dienst, weshalb wir nur zu dritt am Küchentisch saßen, Kaffee tranken und Kuchen aßen. Meine Mutter hatte am Vormittag Zupfkuchen gebacken und ich hatte natürlich schon vorher den rohen Teig genascht, woraufhin ich eine Ermahnung bekam. Als Kind hatte ich mir manchmal einen Teigbatzen in eine kleine Brotdose abgefüllt und in meinem Zimmer versteckt, um heimlich zu naschen. Der süße Duft des frisch gebackenen Kuchens lag noch immer in der Luft. Ich aß zwei Stücke des lustig gefleckten Kuchens, der mich an eine Kuh mit gelbem Farbstich erinnerte, mehr passte leider nicht in meinen Magen.

"Ich habe sie nicht gesehen, aber ich kann sie dann ja mal suchen oder hast du sie gesehen, Rachel?", antwortete ich.

Sie schüttelte den Kopf und kaute mit prallgefüllten Backen ihren Kuchen weiter.

"Ich hoffe ihr ist nichts passiert. Martha ist sonst immer die Erste, wenn es ums Fressen geht!", sagte Mum entmutigt.

Ich wusste, dass die Katze meiner Mutter sehr wichtig war, dabei hatte sie Rachel vor vielen Jahren als wildes Kätzchen gefunden und mit hergeschleppt. Meine Eltern hatten sich schließlich dazu erweichen lassen, sie zu behalten und stellten lediglich die Bedingung, dass sich Rachel um Martha kümmern sollte. Es kam, wie es kommen musste: nach wenigen Monaten war Martha uninteressant geworden und meine Eltern übernahmen die Fütterung. Martha war sehr auf meine Mutter geprägt, hörte auf ihre Stimme und kuschelte vorzugsweise mit ihr. Nur selten kam Martha von allein zu mir um gestreichelt zu werden, aber ich hatte das kleine graue Fellknäuel trotzdem lieb. Deshalb sorgte ich mich darum, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.

"Rachel, du kannst ja deiner Schwester bei der Suche helfen. Ich würde vorschlagen ihr geht raus und nehmt eine raschelnde Tüte Leckerlies mit um sie anzulocken. Ich schau nochmal hier drinnen nach, ob sie sich nicht vielleicht irgendwo verkrochen hat, in Ordnung?"

Ich nickte bereitwillig und Rachel zuckte mit den Schultern, was für sie so viel bedeutete wie: na gut, wenn es sein muss.

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Rachel ging einmal um das Haus herum, rief lieblos Marthas Namen und lehnte sich dann an die Hauswand, um auf ihrem Handy herum zu tippen.

"Hast du die Katze angeschleppt oder ich? Wie wäre es also, wenn du dich mal mit kümmerst!", sagte ich zu ihr, nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte.

"Aber ich habe doch schon gesucht. Die wird schon wieder auftauchen!"

Ich atmete laut und genervt auf und ließ Rachel stehen, um allein weiter nach Martha zu schauen. Ich suchte das ganze Grundstück ab und lief dann mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zur Straße. Hoffentlich wurde Martha nicht überfahren, spukte mir vorher durch den Kopf. Nervös wanderte mein Blick die Straße auf und ab, bis ich erleichtert ausatmen konnte, denn Marthas Leiche lag nicht hier. Auch am Rand der Straße, war sie nicht zu sehen. Doch wo sollte ich nun noch suchen? Ich erweiterte meinen Suchumkreis und ging auch in den Wald, in der Hoffnung fündig zu werden. Nach geschätzten zwei Stunden Suche, war ich immer noch erfolglos und erkundigte mich bei Mum und Rachel nach dem aktuellen Stand: auch die beiden hatten Martha nicht gefunden.

Ich gab die Suche erst einmal auf, da ich keine weiteren Ideen mehr hatte, Martha auf die Spur zu kommen. Meine Mutter polterte gerade auf dem Dachboden herum, um ihre geliebte Katze zu suchen und Rachel hatte sich in ihr Zimmer verzogen. Ich nutzte die Chance und nahm mir zwei Stückchen Kuchen vom Blech.

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Melanie saß auf dem grauen Teppichboden im Wohnzimmer und lehnte mit dem Rücken an der Couch. Ihr Gesicht sah verquollen aus und neben ihr lag die zusammengerollte schlafende Katze, die wir die ganze Zeit gesucht hatten.

"Da bist du ja!", sagte ich automatisch und Melanie schaute mich verwirrt an.

"Wir haben Martha die ganze Zeit gesucht! Du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt. Meine Mutter wirbelt gerade den Staub auf dem alten Dachboden auf, nur um Martha zu suchen."

Ich musste ihr dann unbedingt Bescheid sagen, damit sie ihre Suchaktion abbrechen konnte.

"Oh das ist eure Katze? Ich wusste nicht, dass ihr sie sucht. Sie hat gestern Abend vor der Tür miaut und fing irgendwann an daran zu kratzen. Ich bin sie nicht wieder losgeworden und als ich zu Abendbrot essen wollte, hat sie mir die Wurst vom Toast stibitzt", sagte Melanie.

"Lass mich raten: viel hast du nicht von der Wurst abbekommen oder?", riet ich ins Blaue.

"Eigentlich habe ich gar nichts davon gegessen. Martha hatte scheinbar großen Hunger und das tat mir so leid, dass ich die ganze Packung an sie verfüttert habe."

"Ja, Martha ist eine verfressene kleine Schauspielerin", sagte ich und Melanie lächelte zaghaft.

"Hast du geweint?", fragte ich und setzte mich zu Melanie auf den Boden.

Sie nickte, ihren Blick auf den Boden richtend.

"Was ist, wenn Adrian tot ist?", fragte sie und nun sah ich zu, wie eine Träne aus ihrem rechten Auge trat und ihre geröteten Wangen hinunterlief.

Zwar wollte ich ihr keine falschen Hoffnungen machen, aber ich hatte es irgendwie im Gefühl, dass es zu früh war, den Kopf in den Sand zu stecken. Darum sagte ich:

"Wir werden ihn bestimmt finden, lebendig!" und umschloss sie mit meinen Armen. Sie legte ihren Kopf auf meiner Schulter ab und ich spürte, wie weitere Tränen auf mein Shirt tropften und es allmählich nass wurde. Melanie musste gerade die Hölle durchmachen, begriff ich. Ich stellte mir vor, wie ich mich fühlen würde, wenn ein Familienmitglied einfach so verschwinden würde, ohne eine Spur zu hinterlassen. Meine Brust zog sich bei diesem Gedanken schmerzlich zusammen, aber mir wurde im gleichen Augenblick bewusst, dass sie nicht nur ein Familienmitglied verloren hatte, sondern das Einzige, was immer für sie da war. Bei diesem Gedanken zog ich Melanie noch fester in meine Umarmung und jedes Schluchzen, ging auch auf meinen Körper über, sodass ich ein Teil ihres Schmerzes nachempfinden konnte.

Irgendwann ebbte ihr Schluchzen ab und ihr Körper hörte auf zu beben. Melanie hatte sich wieder etwas gefangen, löste sich aus meiner Umarmung und setzte sich gerade hin.

"Ich habe dir Kuchen mitgebracht", sagte ich und hielt ihr ein Stück davon vor die Nase, doch sie zögerte.

"Jetzt nimm ihn schon, der schmeckt verdammt gut!"

Als sie schließlich davon probierte, stimmte sie mir nickend zu. Währenddessen sie genüsslich kaute, schaute ich mich in der alten Wohnstube meiner Großeltern genauer um, wo fast noch alles wie früher aussah. Die alten Familienbilder hingen, in dunkle Holzrahmen gerahmt, an den weiß tapezierten Wänden mit kleingemusterten, aufgedruckten Blumen. Melanie war die Fülle in der Leere des Hauses, denn irgendwie brachte sie einen Teil der Lebendigkeit hierher zurück.

"Du hast ja sogar Blumen gepflückt!", dachte ich laut, als ich eine Vase dastehen sah, die mir vorher gar nicht richtig aufgefallen war, obwohl sie mir direkt vor der Nase stand. Melanie hatte mittlerweile den Kuchen vertilgt und folgte meinem Blick zur Vase.

"Ja, ich hoffe du bist mir nicht böse. Ich habe sie im Garten vor der Hintertür gefunden."

"Da wächst noch was?", fragte ich erstaunt.

"Er ist etwas verwildert, aber zwischen dem vielen Unkraut, habe ich diesen kleinen Schatz hier entdeckt."

Ich hätte diese Pflanze nicht dem Garten meiner Großeltern zuordnen können, da mich immer nur die essbaren Pflanzen interessiert hatten. Ich wusste aber, dass Oma viele bunte Zierblumen im Garten stehen hatte, als sie noch lebte, aber es hatte sich ja niemand darum gekümmert seit ihrem Tod. Ein Wunder, dass überhaupt noch etwas anderes als Unkraut dort wuchs. Die roten Blüten der Pflanze, hingen wie Herzen mit je einem Tropfen an der Spitze von den geneigten Blütenstielen hinab. Umso genauer ich sie betrachtete, umso beeindruckender fand ich diese Blume. Wie ich sie bisher nur übersehen konnte?

"Du weißt auch nicht wie die Pflanze heißt oder?", fragte ich Melanie.

"Doch! Ihr Name ist 'Tränendes Herz'."

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt