Kapitel 4 - Träume und die Realität

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In dieser Nacht wurde ich von immer wiederkehrenden Albträumen geplagt. Ich rannte und rannte durch den finsteren Wald und fiel immer wieder auf den Boden, um danach wieder aufzustehen und weiterzugehen. Äste versperrten mir den Weg, zerkratzten meine Haut und von überall her hörte ich Geflüster, doch woher es kam, wusste ich nicht. Ich verstand nichts Genaueres, denn es war zu leise und undeutlich. Zweige schlangen sich um mich und raubten mir den Boden unter den Füßen. Ich wusste nicht, wie oft ich erwachte und wieder müde und erschöpft in einen erneuten Albtraum fiel, bis der Spuk endgültig ein Ende fand, nachdem im Traum ein dicker Ast geradewegs auf meinen Kopf gezielt hatte. Völlig fertig und am ganzen Leib zitternd, saß ich nun in meinem Bett. Schweißperlen hatten sich auf meiner Stirn gebildet und gelbliche Flecken auf meinem Kopfkissen hinterlassen. Alles hatte sich so real angefühlt und ich war am Rande des Wahnsinns. Sogar mein Herz raste nach dem Aufwachen, meine Lungen fühlten sich zusammengepresst an, ich bekam nur schwer Luft, atmete schnell und mein Kopf schmerzte.

Es war es noch dunkel draußen und ich schaute auf mein Handy, was mir verriet, dass es erst fünf Uhr morgens war. Da ich Angst hatte, noch einmal in meinen Albträumen zu versinken, beschloss ich, den Weg zur Dusche anzutreten. Ich stand vorsichtig auf, um meinen Fuß nicht so sehr zu belasten, konnte aber feststellen, dass die Schmerzen heute schon viel erträglicher waren. Meinen schweißgebadeten Schlafanzug warf ich in die Wäsche und machte mich fertig für den Start in den Tag.

Es war immer noch Zeit bis jemand in der Küche auffindbar sein würde, denn es war Sonntag und meine Familie waren zwar keine Langschläfer, aber auch keine Frühaufsteher. Deswegen ging ich hinunter ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, wo gerade eine abgedrehte, nachgestellte Soap lief. Es ging um eine Dreizehnjährige, die von ihrem Stiefvater vergewaltigt und unter Drogen gesetzt wurde. Die Schauspieler waren so schlecht, dass ich weiter durch das Programm zappte. Neben verschiedenen Kochsendungen, liefen die Morgennachrichten, aber von dem Fall mit dem Mädchen am Waldrand kam nichts. Damit unsere Kleinstadt ins Fernsehen kam, musste scheinbar schon mehr passieren. Auf einem weiteren Sender wurde jemandem ein in Chloroform getränktes Tuch vor die Nase gehalten, der daraufhin bewusstlos in die Arme des Täters fiel. Ich schaltete den Fernseher aus und erstarrte.

Plötzlich schien alles einen logischen Zusammenhang zu ergeben: Ich und dieses Mädchen waren beide verletzt und mit einem Black-out am Rande des Waldes erwacht. Nur, dass sie gefunden worden war und die Öffentlichkeit davon erfahren hatte, währenddessen ich von allein aufgewacht war und mich nicht an den Notdienst oder die Polizei gewandt hatte. Also mussten die Jungen auch sie gejagt haben.

Hatten sie mich und das Mädchen auch so außer Gefecht gesetzt, wie der Täter sein Opfer im Fernsehen?

Konnten zwei Zehntklässler wirklich so grausam sein?

Eines ergab keinen Sinn: Menschen, die sich nicht mehr erinnern konnten und Verletzungen hatten, wurden schon seit Jahren ab und zu gefunden oder verschwanden sogar.

Waren die Jungs ein Teil einer schon länger bestehenden Gang? Und was war ihr Motiv?

Warum taten sie Menschen so etwas an?

Mochten sie nur den Kick Furcht zu verbreiten und hatten Angst angezeigt zu werden, weshalb sie ihre Opfer ausnockten und abhauten?

Vielleicht stellten sie auch noch Fotos und Videos von ihren Opfern ins Internet. Ich hatte wahrscheinlich zu lange Fernsehen geschaut und zu viele Krimis gelesen, denn ich stellte die verrücktesten Vermutungen an, auch wenn sie völlig absurd klangen.

Aber war das, was geschehen war nicht auch absurd?

Ich sprach auch lange mit Isabella darüber und wir hatten die Idee, das Mädchen aufzusuchen und mit ihr zu sprechen. Vielleicht konnte sie sich ebenfalls daran erinnern von den beiden Typen gejagt worden zu sein. Natürlich wäre das nur ein Zufall, wenn es eine große Gang war. Ich überlegte, wie ich am besten an Informationen zu dem Mädchen herankommen konnte und da fiel mir ein, dass ich gestern gar nicht in die Zeitung geschaut hatte. In der täglichen Zeitung unserer Kleinstadt war es zumindest wahrscheinlicher etwas über den Fall zu erfahren, als im Fernsehen. So fischte ich die alte gestrige Zeitung aus der Papiertonne auf dem Hof. Zum Glück hatten wir keine Nachbarn, die mich bei dieser Aktion hätten beobachten können, denn wir wohnten eher abgeschottet.

Als ich die Zeitung in der Hand hielt, stapfte ich stolz in mein Zimmer und suchte sie nach einem passenden Artikel ab. Melanie K. war 21 und auf dem Foto hatte sie schwarze schulterlange Haare mit rot gefärbten Spitzen und einen Nasenring. Mir fiel nichts Besseres ein, als auf Facebook nach ihr zu suchen. Ich gab ihren Namen und den Stadtnamen ein und rechnete mir gute Chancen aus, da unsere Kleinstadt relativ wenige Einwohner hatte und fast jeder Jugendliche bei Facebook angemeldet war. Die Suche ergab jedoch keinen passenden Treffer und ich musste weiterdenken. Es war also nicht so einfach, wie ich vorher gedacht hätte.

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Frustriert saß ich in der Küche und grübelte vergeblich, wie ich an Informationen kommen könnte, bis mich mein Vater ablenkte, indem er im Schlafanzug den Frühstückstisch für drei Personen deckte.

"Guten Morgen, Papa. Ist Mama gerade arbeiten? Gab es wieder einen Notfall?", fragte ich.

"Nein, nein. Sie hat planmäßigen Nachtdienst, der sich offensichtlich etwas verzögert. Ich weiß nicht genau, wann sie kommt, deshalb habe ich nicht mit für sie eingedeckt."

Gerade, als ich und Rachel den Tisch nach dem Frühstück abräumen wollten, kam meine Mutter aufgelöst zur Tür hinein und erzählte:

"Louis, dieses Mädchen macht mich fertig! Erst hat sie gestern Abend das ganze Büffet abgeräumt, bis sie plötzlich verschwunden ist und jetzt habe ich sie gerade im Parkhaus des Krankenhauses gesehen, als ich nach Hause fahren wollte. Ich weiß nicht warum sie da herumlungert, aber sie kann dort auf keinen Fall bleiben! Sie hat scheinbar im Parkhaus übernachtet."

"Jetzt beruhige dich, Jane. So wie du es beschreibst, deutet es darauf hin, dass sie entweder nicht weiß, wie sie nach Hause kommt oder obdachlos ist, was wahrscheinlicher ist. Ich rufe dann mal im Revier an und gebe Bescheid. Die kümmern sich darum, das verspreche ich dir, Schatz. Und jetzt komme erst einmal an und iss etwas", sagte mein Vater und holte ihr frisches Geschirr aus dem Schrank.

Plötzlich war mir klar, was ich zutun hatte: Ich musste so schnell wie möglich in dieses Parkhaus gehen und mich mit dem Mädchen verabreden!

"Wo willst du denn so plötzlich hin?", fragte meine Mutter, als ich gerade zur Tür hinauseilen wollte.

"Ach, äh, ich wollte zu Bella... Sie hat ausversehen mein Geschichtsbuch eingepackt und das brauche ich dringend", versuchte ich mich herauszureden und trotz meines Gestotters, bestätigte meine Mutter die Erklärung mit einem sanften Nicken.

Das ließ ich mir nicht zweimal zeigen, rannte ohne weiter nachzudenken aus dem Haus und in die Garage, um mein Fahrrad zu entstauben. Radfahren war nicht gerade eines meiner Hobbies, aber was sollte ich machen... Ich schwang mich also aufs Rad und trat heute zur Abwechslung einmal kräftig in die Pedalen. Vielleicht lag es am Adrenalin, was mir einen enormen Energieschub lieferte, aber ich nahm die Schmerzen in meinem Fuß nicht im Geringsten wahr. Auf dem Weg überlegte ich mir stattdessen, wie ich die Sache am effektivsten angehen könnte und schmiedete mir einen Plan.

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Tatsächlich! Hinter einer breiten Säule in einer Gebäudeecke, hatte es sich diese Melanie mehr oder weniger bequem gemacht und verfolgte mich mit ihrem Blick.

"Hey du, ich will mal kurz mit dir reden!", fing ich an, als ich vor ihr stand. Zu meinem Erstaunen, hielt sie meinem Blick stand, ohne auch nur ein einziges Mal mit der Wimper zu zucken.

"Also zuerst wollte ich dich informieren, dass du das Parkhaus lieber in nächster Zeit verlassen solltest, da die Polizei hinter dir her ist und dann wollte ich dich fragen, ob du dich vielleicht mal die kommenden Tage auf einen Kaffee mit mir treffen würdest. Kennst du das kleine Café in der Innenstadt? Das ist echt gemütlich und lecker und ich gebe dir auch etwas aus!", versuchte ich sie zu überreden.

"Wieso sollte ich?", fragte sie misstrauisch.

"Pass auf, Freitagnacht ist mir dasselbe passiert, wie dir. Auch ich bin gestern Morgen ohne jegliche Erinnerung am Waldrand erwacht und ich möchte gern mehr über die Sache herausfinden und deshalb in Ruhe mit dir darüber sprechen", erklärte ich und wider meiner Erwartungen, nickte sie mit ihrem Kopf.

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt