Kapitel 2 - Geburtstag

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Fix und fertig mit dem morgendlichen Badaufenthalt, streifte ich mir meine Schultasche über die Schulter und flitzte in den Flur. Dort begegnete ich meiner Schwester, die mich mit höhnischer Miene anschaute.

"Alles Gute zu deinem Pechtag, Minalein. Deine Cornflakes habe ich bereits aufgegessen", gratulierte sie mir auf ihre ganz eigene Art und Weise zu meinem siebzehnten Geburtstag. Ich war wie jedes Jahr trotz meines Alters völlig aufgeregt. In nur einem Jahr würde ich mein Abitur geschafft haben und dann konnte ich endlich aus dieser winzigen Kleinstadt verschwinden und mein eigenes Leben führen. Nicht, dass ich meine Familie nicht liebte, aber auf Dauer in ein und demselben Haus mit ihnen zusammen zu wohnen, konnte manchmal echt nervig sein. Meine kleine Schwester Rachel befand sich gerade in ihrer pubertären Phase: wenn sie nicht sofort ihren Willen bekam, weinte sie sofort los und krachte ohrenbetäubend alle Türen im Haus zu, damit wirklich jeder auf ihr Leid aufmerksam wurde.

"Guten Morgen Rachel und ja, ich habe dich auch lieb", erwiderte ich kalt und ging an ihr vorbei, denn heute hatte ich überhaupt keine Lust auf sinnlose Streitigkeiten.

In der Küche angekommen, sah ich meine Mutter mit ihrem Diensttelefon am Ohr redend und meinen Vater, der gerade vertieft Zeitung las.

"Ich muss sofort los!", sagte Mutter gestresst, als sie aufgelegt hatte.

Mein Vater löste endlich seinen Blick von der Zeitung und schaute meine Mutter fragend an.

"Es wurde gerade eine junge Frau ins Krankenhaus eingeliefert, die wahrscheinlich unter einer kongraden Amnesie leidet. Da gerade Personalmangel herrscht, soll ich mich um nähere Untersuchungen kümmern. Mehr weiß ich aber auch noch nicht, also mach dir keine Sorgen, Louis. Ich informiere dich, sobald ich näheres weiß. Tschüss ihr zwei", sagte Mum und gab uns beiden einen hektischen Abschiedskuss auf die Stirn.

Obwohl ich mich nicht gerade mit medizinischen Fachbegriffen und Krankheitsbildern auskannte, wusste ich, was meine Mutter sagen wollte: mit einer kongraden Amnesie meinte sie einen Gedächtnisverlust, bei der keine Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis besteht. Mit einem entsetzten Ausdruck im Gesicht starrte mein Vater durch die Zeitung hindurch. Ich fuchtelte mit meinen Händen vor ihm herum, doch er schien mich gar nicht weiter zu bemerken.

"Dad? Ist alles okay mit dir?", fragte ich vorsichtig.

Völlig aus den Gedanken gerissen, schaute er zu mir auf. Nachdem er sich wieder gesammelt hatte, sagte er:

"Ja, ja... Mit mir ist alles gut, wieso auch nicht? Moment mal... Entschuldige, mein Schatz! Alles Gute zum Geburtstag. Ich war gerade so vertieft, da habe ich gar nicht daran gedacht."

Er stand auf und nahm mich behutsam in den Arm. Die Sache mit dem Anruf schien ihn wirklich mitzunehmen und ich wusste auch, warum. Er dachte garantiert, dass das Mädchen, von dem meine Mutter gesprochen hatte, eines der Opfer war... Schon seit geraumer Zeit kam es ab und zu vor, dass Personen in den Morgenstunden mit einem Filmriss nahe des Waldes erwachten. Einige von ihnen kamen völlig verwirrt ins Krankenhaus und hatten sogar Verletzungen davongetragen. Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken herunter, denn es ging hier um den kleinen naturgeschützten Wald, in dem ich so gerne mit meiner Großmutter gewesen war und durch den ich an so manchem Tage spazierte, um meine Gedanken zu ordnen.

Konnte dort ein Irrer unterwegs sein, der den Leuten bunte Pillen austeilte oder irgendwelche absurden Sachen mit ihnen anstellte?

Aber wenn mein Vater nicht mehr wusste - und er war Polizist - dann würde ich erst Recht nichts darüber erfahren. Und gerade das ließ mein Interesse für den Fall wachsen, aber es brachte zugleich ein mulmiges Bauchgefühl mit sich.

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt