Kapitel 12 - Die Zuflucht

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Ich stand auf unserem Hof und zum ersten Mal seit langer Zeit, schaute ich nicht an dem alten Haus meiner Großeltern vorbei. Mein Blick traf das kaputte Dach des Hauses. Eine blaue große Plane war über ein Loch im Dach gezogen worden. Die alten Spitzengardinen hingen noch immer in den Fenstern, welche von grünen Fensterläden geziert waren. Es war ein schönes Fachwerkhaus, was ich aber seit Großmutters Tod nicht mehr betreten hatte. Auch meine Familie mied es, das Haus zu betreten. Mein Vater hatte lediglich die Plane auf dem Dach befestigt.

Nach einer langen Zeit des Zögerns, steckte ich den Schlüssel ins Türschloss und öffnete die Tür. Ein vertrauter alter Duft stieg mir in meine Nase und weckte alte Erinnerungen. Die Luft hier war feucht, doch sonst war hier alles so wie früher. Die Möbel standen an ihren rechtmäßigen Plätzen, sogar die Pantoffeln meiner Großeltern standen noch im Flur. Ich versuchte stark zu sein, da Melanie allein schon schwach genug für uns beide war. Ich ging mit ihr in das alte Wohnzimmer und deutete ihr, sich auf die alte Couch zu setzen.

"Nach unserem Treffen im Café, bist du so plötzlich abgehauen. Du warst einfach weg, aber ich wusste nicht, wo ich dich suchen sollte."

"Ja, ich war ziemlich aufgebracht, tut mir leid. Ich suchte mir Unterschlupf an der Brücke und vegetierte dort so vor mich hin", antwortete Melanie.

Langsam kam sie wieder zu Kräften und man konnte sich allmählich wieder normal mit ihr unterhalten.

"Jetzt habe ich dich ja gefunden! Wenn du wieder fit bist, können wir ja zusammen nach deinem Bruder suchen. Was hältst du davon?", fragte ich.

"Ich kann doch nicht einfach hier wohnen und mich von dir vollfüttern lassen! Und dann willst du mir auch noch helfen meinen Bruder zu suchen, obwohl das dir überhaupt nichts bringt, außer Arbeit."

"Kein Problem! Ich bin Workaholic", sagte ich im Spaß, doch sie schaute nur ernst und zog eine Augenbraue nach oben.

Warum hatte ich sie bei mir aufgenommen? Zum einen tat sie mir leid und ich wollte nicht, dass sie allein auf der Straße verhungerte. Ich versetzte mich immer zu leicht in Leute hinein, als dass ich solche Tatsachen einfach ignorieren konnte. Sie hatte nicht so ein Glück wie ich, in einer heilen Familie aufgewachsen zu sein mit eigenem Haus und ohne finanzielle Nöte. Zum anderen hatten wir das gleiche Schicksal erlitten: wir waren bewusstlos geworden an jenen Nächten im Wald und hatten einen Menschen verloren, den wir sehr geliebt hatten. Ich spürte eine Verbindung zwischen uns.

"Melanie, ich mach das wirklich gern und möchte ja auch herausfinden, warum ich ohne Erinnerung an die letzte Nacht auf einer Bank am Waldrand erwacht bin. Außerdem steht das Haus hier sowieso leer. Ich würde vorschlagen, dass dann erst einmal eine Dusche nimmst und ich dir frische Sachen besorge. Verhalte dich unauffällig hier und öffne nur die Fenster der zum Garten gewandten Häuserfront, wenn meine Familie Zuhause ist. Pass auf, wenn du mal das Haus verlässt und nutze gegebenenfalls die Hintertür zum Garten. Ach und bitte lass das Licht aus!"

Ich zeigte ihr das alte Badezimmer, ging in den Keller und drehte das Wasser auf.

Anschließend ging ich allein in unser eigenes Haus und hörte laute Musik aus Rachels Zimmer. Rachel! Ich hoffte, sie hatte uns nicht gesehen. Ich hatte nicht mehr daran gedacht, dass sie bereits Zuhause war und wir waren mitten auf dem Hof entlang spaziert. Ich stellte meine Schultasche und den Einkauf in der Küche ab, ging zu Rachels Zimmer und klopfte an die Tür. Vielleicht hörte sie es nicht, denn die Musik war sehr laut. Ich trat einfach ein, doch dann wünschte ich mir, dass ich es nicht getan hätte. Dieser Alex war bei ihr und tat grad Dinge mit ihr, die ich nicht sehen wollte. Dinge, die ich noch nicht einmal getan hatte und ich war siebzehn und nicht vierzehn!

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt