Kapitel 25 - Der Wald - Stimmengewirr

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Als Melanie wieder aus dem Haus der alten Dame herauskam, zog sie ein trauriges Gesicht, aber ich sah ein kaum merkliches Zucken ihrer Mundwinkel.

Wollte sie mich etwa auf den Arm nehmen?

Aber wenn nicht, dann würde ich in ein riesiges Fettnäpfchen treten, dachte ich mir und fragte vorsichtig:

"Wollte sie dich nicht?"

Melanie antwortete mit gesenktem Blick und einem Kopfschütteln.

"Wir finden bestimmt was Neues für dich!", versuchte ich sie zu trösten, bis sie plötzlich aufsprang und mit dem Finger auf mich zeigend "V-E-R-A-R-S-C-H-T" schrie. Hinterlistiges Miststück. Die vorbeilaufenden Leute, schauten uns schief an und ein Mann auf dem Balkon blickte mit weit aufgerissenen Augen auf uns herab.

"Ich darf schon morgen Nachmittag anfangen!"

"Das ist also der Dank dafür, dass ich alles dafür getan habe, damit es dir gut geht?", fragte ich mit überkreuzten Armen und presste mir eine Träne aus meinem linken Auge.

"Weinst du? War doch nur Spaß!", sagte Melanie entschuldigend. Ha, wieder 1:1! Ich war gut in der Gegenwehr! Vielleicht sollte ich Fußballerin werden! ...Obwohl, das war ja Sport...

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Heute hatte Melanie ihren ersten Arbeitseinsatz bei der alten Dame, während ich mich gerade zu Tode langweilte. Ich saß in unserem Garten und hörte dem Gras beim Wachsen zu, aber ich hatte auch nichts sinnvolleres zutun, denn ich hatte bereits alle Blumen im Haus und das Gartenbeet gegossen, aufgewaschen, gekehrt und Martha versorgt. Mehr fiel mir nicht ein und ich hatte auch ehrlich gesagt keine Lust darauf, noch fleißiger zu sein. Meine Eltern hatten dieses Jahr richtiges Glück, dass ich Zuhause blieb und Martha versorgte. Sonst mussten sie sich immer eine teure Katzennanny hierher bestellen. Ich spielte an meiner Kette herum, was folgenden Gedankengang bei mir hervorrief: Kette... Baum... Wald... Black-Out... Adrian...

Ich war in letzter Zeit in diesem Fall nicht weitergekommen, aber vielleicht sollte ich die Sommerferien dazu nutzen! Ich hatte doch sowieso nicht viel besseres zu tun.

Warum hatte ich im Wald nichts gefunden, als ich danach suchte?

Hatte ich etwas übersehen?

War der Wald vielleicht doch nicht der gemeinsame Nenner?

Doch! Er musste es sein. Ich war mir so sicher!

Ich suchte nach weiteren Übereinstimmungen zwischen Melanies Fall und meinem.

...Wir waren beide in den Wald gerannt...

...Wir erwachten mit einem Filmriss am Waldrand...

...Wir erlitten kleine Verletzungen...

Irgendwo musste doch noch etwas sein! Irgendwas musste ich übersehen haben.

Moment! Es war in der Nacht! Wir konnten uns nicht mehr an diese eine Nacht erinnern! Und hatte mein Vater nicht auch gesagt, dass mir im Wald nichts passieren würde, solange ich nicht in der Dunkelheit dort war!? Die Opfer erwachten stets am Morgen danach und konnten sich nicht mehr an die Nacht davor erinnern, was bedeutete: Ich musste mit dem Einbruch der Dunkelheit in den Wald gehen, auch wenn ich nicht wusste, was mich dort erwartete. Mein Vater hatte mir jedenfalls ans Herz gelegt, mich nicht nachts in der Nähe des Waldes herumzutreiben...

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In der Abenddämmerung ging ich in das alte Haus meiner Großeltern. Eigentlich wollte ich Melanie fragen, ob sie nicht doch mit in den Wald gehen wollte, da ich schon ein wenig Angst hatte allein zu gehen, aber ich sah sie in ihrem Bett schlafen. Sie hatte sogar ihre Klamotten angelassen und schien völlig erledigt ins Bett gefallen zu sein, also holte ich mir nur meine Campinglaterne, die ich ihr geliehen hatte und schlich mich auf leisen Sohlen davon.

Im Wald herrschte bedrückende Stille: kein Vogel zwitscherte, der Wind stand still und lediglich die Blätter und Zweige unter meinen Füßen knisterten. Um die Ruhe zu durchbrechen, fing ich an zu summen und ging dann in einen leisen Gesang über. Ich lief vorsichtig in kleinen Schritten in die Dunkelheit.

Abrupt blieb ich stehen.

Stimmte jemand in meinen Gesang ein?

Hörte ich da nicht irgendwas?

Ich stoppte meinen Gesang und schärfte meine Sinne.

War da ein Flüstern?

Nein, das musste ich mir einbilden. Die feinen Härchen auf meinen Oberarmen stellten sich auf, als ich realisierte, dass ich Stimmen hörte, die immer lauter wurden. In meiner Umgebung fing es an zu rascheln und zu knacken, doch diesmal waren das nicht die Blätter und Zweige unter meinen Füßen, denn ich stand ganz still da. Ich sang nun wieder lauter, damit ich die Stimmen und Geräusche in meinem Kopf übertönen konnte, doch dann spielten mir auch meine Augen einen Streich. Bewegte sich dieser gewaltige Baum in geschätzten vier Metern Entfernung gerade? Vor Schreck glitt mir die Campinglaterne aus der rechten Hand und fiel auf den Boden, wo sie weiterleuchtete. Die Stimmen im Wald schrien mittlerweile und klangen schmerzverzerrt. Ich hielt es nicht mehr aus, ließ mich in die Hocke sinken, hielt meine Ohren zu und kniff die Augen fest zusammen. Ich sang so laut ich konnte und blendete alles um mich herum aus, als wäre ich unter einer überdimensionalen Käseglocke gefangen.

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt