Kapitel 38 - Hitze und Trockenheit

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August

Die letzten Tage waren, wie auch im letzten Monat sehr heiß und meine Familie beschwerte sich permanent über diese 'unerträgliche Hitze', denn in Finnland waren es so 'ausgelassene 22 °C' gewesen. Seitdem sie wieder aus dem Urlaub zurückgekehrt waren, wurde es zunehmend schwerer unbemerkt in den Wald zu gehen. Oftmals gab ich vor, bei Isabella zu sein und manchmal schlich ich mich auch einfach mitten in der Nacht auf leisen Sohlen aus dem Haus, in der Hoffnung, dass ich am nächsten Morgen nicht allzu spät wieder aufwachen würde. Doch seitdem ich einmal bei meiner Ankunft gegen Mittag von meinen Eltern erwischt wurde und ich stotternd nach einer Erklärung gesucht hatte, versuchte ich meine Ausreden schon vorher anzukündigen. Ich hasste es mich rauszureden, aber meine Eltern besorgt zu sehen, konnte ich auch nicht ertragen und sie würden mich ohnehin nicht verstehen. Ich war zwar auf eine Art froh meine Familie wiederzusehen, andererseits erschwerte sich dadurch vieles und mit Melanie als Mitbewohnerin war es entspannter gewesen.

"Wann wolltest du gleich nochmal mit Isabella zelten gehen?", fragte mein Vater schmatzend beim Abendessen.

"In drei Tagen soll es eigentlich losgehen, aber ich muss sie dann erst einmal anrufen, weil wir noch gar nichts Näheres besprochen haben!"

"Bei der Hitze braucht ihr ja wahrscheinlich nicht einmal einen Schlafsack", gluckste meine Mutter. "In Finnland war es ja so angenehm!"

"Was du nicht sagst", erwiderte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Zum wievielten Mal erzählte sie mir das jetzt?

Eigentlich hatte ich die Zelturlaube immer geliebt, aber dieses Jahr tat ich mich irgendwie schwer mit dem Gedanken. Ich konnte unser Telefonat über mich und den Wald noch nicht so richtig vergessen. Viel mehr baute es einen unsichtbaren Schutzwall zwischen sie und mich, der zugegeben von meiner Seite ausging. Sie hatte mir ab und zu mal eine SMS geschrieben oder mich angerufen, aber meine Antworten waren meist sehr knapp ausgefallen. Eine ganze Woche zelten... Das bedeutete gleichzeitig auch eine ganze Woche keine Nächte im Wald... In meinem Magen machte sich wieder ein schweres, mulmiges Gefühl breit, was die Vorfreude auf den Urlaub mit Bella abschwächte.

"Du hast dich doch gestern erst mit Bella getroffen... Und ihr habt noch nicht über den Urlaub gesprochen?", zweifelte Rachel an und spielte damit ein Ass aus ihrem Ärmel.

Meine Eltern wurden sofort hellhörig.

"Ja...Dumm, nicht? Wir haben erst einen Film mit Channing Tatum gesehen und fanden dann irgendwie kein anderes Gesprächsthema mehr", druckste ich herum.

"Ach, Weiber wieder!", sagte mein Vater. "Können sich nie mit dem zufrieden geben, was sie in ihrer Umgebung finden! Es gibt so liebe Kerle in der Stadt. Direkt vor deiner Nase, Mina!"

Ich warf meiner Schwester einen warnenden Blick über den Tisch zu, den meine Eltern zu meinem Vorteil übersahen, denn mein Vater schüttelte seinen Kopf und meine Mutter lachte über die Aussage meines Vaters. Damit war dieses Thema glücklicherweise beendet.

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Am späteren Abend fasste ich mir ein Herz und rief Isabella an. Vielleicht würde mich das Gespräch ein wenig davon ablenken, dass ich heute Nacht nicht in den Wald ausfliegen konnte. Rachels Kommentar war mir eine Warnung gewesen, dass ich vorsichtiger sein musste und deshalb hatte ich beschlossen heute keine Ausrede zu erfinden und brav zu pausieren. Ich konnte auch nicht mehr jeden Mittag Schlaf nachholen, wenn meine Eltern Zuhause waren, denn das fiel mit der Zeit auf. Ich tippte auf den grünen Hörer auf dem Display und atmete noch einmal tief durch, bevor ich mir mein Handy ans Ohr hielt und auf das Ende des Tutens wartete.

"Was? Du meldest dich? Freiwillig? Mina, bist du es wirklich?", begrüßte sie mich mit einer unüberhörbaren Ironie am Telefon.

"Ja, die einzig Wahre", antwortete ich so freundlich wie möglich. "Ich wollte mal wegen unserem Urlaub nachfragen. In drei Tagen geht es an den See Zelten... Steht das noch?"

"Na klar. Ich halte mein Wort", sagte Isabella und wir fertigten uns eine Liste an, was wir alles mitnehmen wollten.

"Denkst du wir sollten vorher nochmal anrufen und uns anmelden?", gab ich zu Bedenken. "Aber eigentlich ist ja auf dem Zeltplatz immer noch irgendwo eine Lücke frei."

"Wir sind schon angemeldet"

Jetzt war ich überrascht. Bella hatte das noch nie gemacht. Eigentlich telefonierte sie nicht mal gern mit fremden Leuten. Sie überließ das meistens mir.

"Okay, danke...Dann sollten wir jetzt nur noch klären, wie wir dahin kommen."

"Daniel fährt", antwortete sie knapp und bald beendeten wir unser Gespräch.

Urlaub mit Bella... Sie schien sich zumindest wirklich Mühe gemacht zu haben. Schließlich hatte sie einen Fahrdienst für uns zwei organisiert und uns auf dem Zeltplatz angemeldet. Vielleicht würde der Urlaub unserer Freundschaft auch ganz gut tun. Mit diesem Gedanken schlief ich friedlich ein.

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Meine Eltern waren beide außer Haus und ich beschloss Melanie mal wieder zu besuchen. Da sie sich nun wieder verstecken musste, hatte ich sie schon seit längerem nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich steckte das Familienfoto von ihr ein, was ich von Frau Theodor erhalten hatte und suchte zuerst in dem Garten meiner Großeltern, doch zu meinem Erstaunen war sie nicht dort. Stattdessen fand ich sie mit leerem Blick Richtung Wohnzimmerdecke auf der Couch vor und räusperte mich leise. Als sie sich immer noch nicht regte, stupste ich sie vorsichtig an und begrüßte sie. Ich erhielt keine Antwort und legte das Foto mit den Worten:

"Ich habe dir etwas mitgebracht" auf dem Stubentisch ab.

Melanie schaute es an und setzte sich schließlich auf. Das Foto drehte sie um, aber sie fing immerhin an zu sprechen:

"Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Bis vor Kurzem habe ich mir gewünscht, mein Vater wäre tot. Ich sah ihn als gewalttätiges Biest und konnte diesen Gedanken nicht ablegen, doch gerade jetzt, wo er tot ist, bereue ich dieses Denken. Seit langer Zeit sehe ich ihn wieder so, wie er vor Mutters Tod gewesen ist."

Es überraschte mich, dass sich Melanie mir anvertraute und ich dachte über ihre Worte nach, bis ich antwortete:

"Auch, wenn das mehr wehtut, ist das wahrscheinlich die beste Sichtweise um ihn in deiner Erinnerung zu behalten."

"Er hat sich umgebracht. Das habe ich herausgefunden... Vielleicht wollte er sich ändern? Möglicherweise hat er mich gebraucht und ich hätte es verhindern können. Mina, ich hätte nicht so feige sein sollen! Er war so allein..."

"Es ist nicht deine Schuld, Melanie. Und das weißt du auch", versuchte ich ihr klarzumachen und sagte dann unvermittelt: "Lass uns eine Runde spazieren gehen."

Vielleicht war es das beste, wenn sie einfach mal aus ihrem Leidenskämmerchen herauskam.

Wir liefen eine weite Strecke über Felder, Wiesen und durch den Wald und schwiegen die meiste Zeit. Ich suchte nach den richtigen Worten, doch ich wusste, dass ich nie die perfekten Worte finden würde. Als ich mich an die Zeit nach dem Tod meiner Großmutter erinnerte, fiel mir ein, dass ich damals alle Zusprüche und aufbauende Reden von Freunden und Verwandten als eher weniger helfend empfunden hatte. Mir war zwar bewusst gewesen, dass sie die Wahrheit gesprochen hatten, doch ich war vollkommen unberührt geblieben und hatte mir einfach nur gewünscht, dass sie mich in Ruhe lassen würden. Damals war ich einfach nur froh gewesen, wenn jemand bei mir geblieben war und Anteil an meiner Trauer genommen hatte. Und so verblieb ich nun auch mit Melanie. Wenn sie reden wollte, war ich ein guter Zuhörer und antwortete kurz. Ich stellte keine Fragen und textete sie nicht zu.
Mir wurde zum ersten Mal so richtig bewusst, wie die Natur unter der Trockenheit gelitten hatte. Das Gras hatte sein saftiges Grün verloren, war gelb und spröde und einige Bäume hatten ein so gelbbraunes Blätterdach, wie es erst für den Herbst üblich war. Die meisten Kastanien warfen schon eine große Menge ihrer Blätter ab. Ich war froh, dass wir über ebene Flächen spazierten, denn das war bei dieser Hitze anstrengend genug und obwohl das überhaupt nicht typisch für mich war, sehnte ich den Regen herbei, damit die Pflanzen nicht mehr so sehr leiden und die Menschen nicht mehr schwitzen mussten.

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt