Kapitel 10 - Das Wiedersehen

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Juni

Wenige Wochen nach dem Besuch meines Großvaters, saß ich im Schneidersitz auf meinem Bett und machte meine geschenkte Taschenuhr in einem ausgedachten Rhythmus auf und zu.

Heute war ich schon eine Stunde vor dem Klingeln meines Weckers wach gewesen und hatte mich bereits fertig für den Schultag gemacht. Ich hatte mir extra viel Zeit im Bad gelassen und meine roten Haare zu einem schrägen französischen Zopf gebunden. Normalerweise ließ ich meine Haare offen oder band sie zu einem normalen Pferdeschwanz, weil ich meine Zeit am Morgen lieber länger im Bett verbringen wollte.

Auf und zu. Auf und zu. Auf und zu.

Wie spät war es nun?

Ich schaute auf mein Handy. Immer noch dreißig Minuten, bis es sich lohnen würde in die Küche zu gehen.

Auf und zu. Auf und zu. Auf.

Moment! Was war denn das?

Ich betrachtete die Innenseite des Deckels genauer. In kleinen Druckbuchstaben war eine Innenschrift eingraviert. Ich strengte meine Augen an, um sie zu entziffern:

'Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir lieben.'~ Wilhelm Busch ~

Ein wirklich schöner Spruch.

Von wem meine Uroma wohl diese Uhr geschenkt bekam?

Ob unser Leben wirklich nur die Stunden ausmacht, in welchen wir lieben?

Meint der Spruch nur die Liebe die von uns ausgeht oder die wir uns gegenseitig schenken? Also demnach auch die Stunden in denen wir geliebt werden?

Muss die Liebe zu einer bestimmten Person sein? Muss sie klar definiert sein oder lässt sie sich einfach mit dem Gefühl der inneren Geborgenheit gleichsetzen?

Lebe ich richtig? Liebe ich?

Ich dachte darüber nach, wen und was ich liebte und wann ich richtig gelebt hatte. Viele schöne Stunden meines Lebens hatte ich in meiner Kindheit erlebt.

Ich dachte beispielsweise an die gemeinsamen Urlaube mit meinen Eltern am Meer: das Meeresrauschen, die warme Sonne auf meinem Bauch, das erfrischende Wasser, die gemeinsamen Muschelsammelaktionen, im Sand eingegrabene Füße, erbaute Sandburgen und ab und zu ein Eis zur kurzweiligen Abkühlung. Diese Urlaube hatte ich geliebt und ich fühlte mich geliebt, denn wir konnten die Zeit als Familie störungsfrei genießen und füreinander da sein. Früher waren wir noch oft gereist, aber heute verbrachten meine Eltern ihre Urlaubstage lieber in den eigenen vier Wänden.

Meine Spaziergänge mit Oma im Wald hatte ich sehr geliebt. Manchmal picknickten wir auf der kleinen Waldlichtung. Wenn ich mich daran erinnerte, hatte ich noch immer den süßen Duft der Blumen in der Nase. Manchmal war Opa dabei gewesen, was jedoch eher selten war. Nicht, dass er nicht gewollt hätte, aber er hatte nicht jene Verbindung zum Wald und der Natur, wie sie meine Großmutter hatte und arbeitete währenddessen meist.

Die Zeit mit Isabella war ein Teil meines Lebens, den ich nicht missen wollte. Wenn ich Liebeskummer hatte, brachte sie mich zum Lachen. Wenn sie die Probleme ihrer Eltern beschäftigten, hörte ich ihr zu. Auch die verrückten Erinnerungen waren wertvoll für mich. Damals, als wir die Schullektüre 'Nathan der Weise' zu 'Nathan der Heiße' umschrieben oder statt zu fluchen, weil wir eine unangekündigte Leistungskontrolle schrieben, einen Lachflash bekamen. Sie hatte natürlich trotzdem irgendwie eine eins bekommen, während ich die Note fünf bekam. Isabelle liebte ich, wie man eine Freundin nur lieben kann. Sie kannte mich manchmal besser, als ich mich selbst kannte.

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt