Die Oberfläche der Kristalle war kalt und erinnerte Sarah im ersten Augenblick an klares Wasser, das ihre geöffnete Handfläche schließlich berührte; sie fühlte seinen Blick auf sich, als sie tatsächlich die Kristalle aus seiner Hand fegte, ebenso wie die leise Überraschung, mit der er es tat – doch er war damit nicht allein. Sarah starrte mit halbgeöffnetem Mund den klaren Kugeln nach, die unendlich langsam dem Boden zusteuerten. Ihre Blicke trafen sich, als der erste Kristall barst und seltsam dumpf in Sarahs Ohren klang; tausende kleiner Splitter, die wie Diamanten im bleichen Licht funkelten, benetzten Boden. In den dunklen Augen lag eine eisige Kälte, bevor sich der Koboldkönig von ihr abwandte und eine kurze Bewegung mit seiner Hand ausführte; eine kurze, dennoch kräftige Druckwelle schien Sarah daraufhin zu erfassen, und die anderen Kristalle daraufhin plötzlich ... als glänzende, dünne Seifenblasen empor stiegen, immer weiter und weiter in den orangerot verfärbten Himmel über ihr; warmer Wind ließ ihr Strähnen ihres Haars ins Gesicht peitschen.
Da war wieder dieser bestialische Geruch des Todes, der das Reich umgab, doch als Sarah den Blick schweifen ließ, waren die unzähligen dunklen Rauchsäulen verschwunden; das Labyrinth, einst gigantischen Ausmaßes und Grund für Sarahs Verzweiflung, existierte nicht mehr. Sie erkannte Teile des Mauerwerks, überwuchert von totem braunem Gestrüpp, doch ein Großteil war in sich zusammen gestürzt und von rußgeschwärzt. In der Ferne erblickte sie das Skelett des Schlosses; ein Flügel schien dem Feuer getrotzt zu haben und reckte sich noch mitgenommen in den Horizont.
Was bezweckte er damit? Fragend wandte sie sich dem Koboldkönig zu, dessen Umhang majestätisch in dem Wind wehte. Die schwarzen Augen waren vollkommen ausdruckslos geworden, seine Züge ernst. Wortlos zeigte er mit gestrecktem Arm in eine Richtung, sodass die junge Frau noch irritierter als zuvor war, bis sie die leisen Stimmen hörte und daraufhin auf sie zuging; sie drangen aus dem Wald, der jedoch nur noch aus kahlen, schwarzen Baumstämmen zu bestehen schien. Trockenes Geäst knackte unter den kleinen Füßen, und als sie die gelbe große Feder zwischen den Stämmen aufblitzen sah, schnürte sich Sarahs Kehle zu.
„Hier werden wir kaum noch etwas finden ..." Hoggles rauhe, brummende Stimme. Resignation lag darin. Ihre Augen begannen zu brennen. „Der Wald stirbt auch, aber er tut es langsam. Ein paar essbare Wurzeln werden wir noch finden, aber Beeren keine mehr ... schätze, wir müssen noch mehr rationieren. Dabei hab' ich solchen Hunger."
„Gebt nicht auf, edler Hoggle", quiekte Sir Didymus, „seid gewiss, diese Zeit wird vorüber gehen – und Ihr wisst genauso gut wie ich, dass es nicht Myladys' Schuld ist."
„Das habe ich nie behauptet", kam es grummelnd zurück und das Brechen trockener Erde war zu vernehmen, „aber wie viele Jahre sind nun vergangen, seit wir Sarah das letzte Mal sahen? Sie sagte, sie würde uns rufen, uns nicht vergessen. Sieh es ein, Didymus, sie kommt nicht wieder. Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei der Sache, ich hab's gewusst, dass es Probleme geben würde, aber nicht, dass der Untergrund fallen würde ... dass der König sterben würde. Sarah hat uns vergessen, und ich ... habe mich in ihr getäuscht."
Ein Seufzen, dem eine kurze, vielsagende Pause folgte. „Vielleicht hatte Jareth recht. Komm, hier ist nichts mehr. Hier gibt es nichts mehr für uns." Die Schritte verklangen allmählich, bis sie völlig von dem sterbenden Wald verschluckt wurden; sie ließen damit die leere Lichtung und das zerstörte Tal hinter sich, ebenso eine Sarah, deren Herz zu bersten drohte. Die kalten, schmalen Hände hatte sie zu Fäusten geballt; ihre Lippen zitterten, und eine warme Träne bahnte sich ihren Weg über die verschmutzte Wange. Sie starrte den Stimmen hinterher, obwohl sie wusste, dass ihre Freunde längst fort waren. Aber waren sie das überhaupt gewesen – Freunde?
Wahre Freunde waren füreinander da und vergaßen einander nicht einfach so; und Sarah hatte sie vergessen ... sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
„Ich habe sie vergessen." Ihre Stimme zitterte, als sie sprach und Sie sich dabei wieder dem Koboldkönig zu wandte, dessen schwarze Augen jeder ihrer Bewegungen zu folgen schienen. So viele Gedanken schossen gerade durch ihren Kopf, dass ihr schwindelte und sie kurz taumelte; ihre Brust schnürte sich zusammen, als sie daran dachte, wie Hoggle und Sir Didymus verzweifelt nach etwas Essbarem suchten, umgeben vom Gestank des Verderbens. Es fühlte sich wie ein harter Schlag in die Magengrube an, als ihr bewusst wurde, dass sie sich nie Gedanken darüber gemacht hatte, ob die Rettung ihres Bruders Konsequenzen nach sich ziehen würde. Für Sarah war nur wichtig gewesen, Toby wieder heil nach Hause zu bringen, sodass ihre Stiefmutter und ihr Vater nichts von seinem Verschwinden und ihrem böswilligen Wunsch nichts bekamen.
Ja, sie war den Wesen, allen voran Hoggle, dankbar gewesen für seine Hilfe – doch je länger sie darüber nachgedacht hatte, desto klarer war für sie gewesen, dass es eine andere Welt gewesen war; Sir Didymus, die Kobolde und all die anderen – sie gehörten genauso wenig in ihre Welt wie Sarah in den Untergrund. Bald war sie sich sicher gewesen, dass alles nur ihrer wilden kindlichen Fantasie entsprungen war. Ihrer Stiefmutter, die ohnehin schon der Meinung gewesen war, dass sich ein Teenager anders verhalten sollte, hatte ihr letzten Endes auch noch einen Therapeuten aufgeschwatzt, bis die letzte ihrer Erinnerungen gestorben war. Eine einzelne Träne stahl sich davon.
Der warme, trockene Wind strich über ihre Haut; einzelne Sandkörnchen hatten sich in ihrem langen Haar gefangen. Bisher hatte sich alles wie ein Traum angefühlt; so unwirklich und seltsam, selbst ihre Angst und die Schmerzen hatten sich dumpf angefühlt. Da war stets dieser Gedanke gewesen, dass sie jederzeit erwachen konnte und alles wieder normal war. Irgendetwas war gerade mit ihr geschehen.
Sie suchte seinen Blick und erschrak, als er plötzlich vor ihr stand; das kühle Leder seines Handschuhs legte sich auf ihre Wange, so schnell, dass sie nicht einmal zusammenzuckte. Sein Gesicht war so nahe an ihrem, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut fühlen und die feinen Fältchen sehen konnte; die dunklen Augen musterten sie. „Ich fühle ... deinen Schmerz." Seine Stimme erinnerte sie an Samt, das über ihre Haut strich; feine Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, als sein Daumen die Träne sanft fort wischte und sie dabei nicht aus den Augen ließ. Sie verlor sich in seinen schwarzen, unergründlichen Tiefen, spürte nicht, wie sich seine Hand auf ihren Rücken legte, während die andere immer noch auf ihrer Wange ruhte. Da waren seine markanten Züge, unterstrichen von den dunklen Zeichnungen um seine Augen und die spitz zulaufenden Augenbrauen, die seine schlanke und hochgewachsene Gestalt noch einmal hervor hoben. Er war eine unheimliche Erscheinung, die in der Menschenwelt gewiss für Aufsehen sorgen würde und ganz und gar nicht dem Idealbild eines Mannes entsprach – doch was auch immer er sein mochte, er war nicht menschlich. Dennoch, irgendetwas an ihm schaffte es, dass Sarah ihren Blick kaum von ihm abwenden konnte.
Ich kenne deine Wünsche, deine Ängste ... deine tiefsten und dunkelsten Geheimnisse.
Sie war sich sicher, seine flüsternde Stimme vernommen zu haben, und doch konnte sie sich nicht entsinnen, gesehen zu haben, wie sich seine Lippen bewegt hätten; ein leises Lächeln schlich sich auf jene, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
... Ich kenne dich, Sarah ...
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...