Sarah blinzelte müde, murrte leise vor sich hin und zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte bis jetzt tief geschlafen, doch das Gefühl, etwas gehört zu haben, hatte sie langsam zu sich kommen lassen. Ihr Körper fühlte sich unendlich schwer an und wollte ihr nicht so recht gehorchen; lange konnte sie noch nicht geschlafen haben. Vermutlich nur irgendein Vogel oder anderes nachtaktives Tier, das unterwegs war. Sie kuschelte sich noch tiefer in das unglaublich weiche, warme Bett, grub ihre Finger in eines der seidenen Kissen ... mit den Fingerkuppen strich sie noch einmal über den kühlen, glatten Stoff; mit einem Mal war sie plötzlich hellwach.
Die grünen Augen musterten alarmiert und aufmerksam ihre Umgebung; einige wenige Kerzen spendeten ein schwaches, warmes Licht, doch vermochten sie den großen Raum nicht vollends zu erhellen. Sarah erkannte dicke massive Pfeiler aus Holz, die einen schweren Damasthimmel mit Stickereien trugen. Über dem Kamin, der wie ein schwarzes Maul starrte, flackerten die kleinen Flammen im sanften Luftzug; die Wände waren dunkel vertäfelt und wirkten nicht einladend. Sie schleuderte die Decke von sich und schwang ihre Beine an den Rand des Bettes, wo sie noch einmal kurz verharrte, um das Kleid aus dünnem Chiffon zu begutachten, das sie plötzlich trug; die feinen Träger rutschten über ihre Schultern und ließen sie frei da liegen. Sie krümmte ihre Zehen, als ihre nackten Füße den kalten Steinboden darunter berührten.
Zielstrebig steuerte sie auf den Kamin zu, wo sie nach einer der Kerzen griff, und sich dann weiter umsah; eine Wand war mit einer Reihe an hohen Fenstern, die mit Buntglas ausgekleidet worden waren, versehen. Sarah musste die Kerze näher daranhalten, um zu erkennen, dass verschiedene Szenerien darin abgebildet worden waren, und wusste nun auch, welches Geräusch sie geweckt hatte - der Ast eines Baumes klopfte sacht immer wieder gegen das Glas.
Sie erschauderte, als sie sie näher betrachtete und grausame Darstellungen des Kampfes und Todes betrachtete, von denen sie sich angewidert abwandte und weiterging. Der Anblick des nächsten Fensters ließ sie beinahe die Kerze fallen. Mit ungläubigem Blick musterte sie das Abbild einer Frau ohne Gesicht. In ihrem Arm hielt sie schützend ein Kind, während die andere Hand warnend gestreckt war, so als würde sie jemanden auf Abstand halten wollen.
Sarah glaubte zu wissen, wen sie da vor sich sah, und wandte sich immer noch staunend davon ab; ein sanfter Zug fuhr durch ihr dunkles Haar und brachte die Flamme gefährlich zum Flackern, sodass sie die Hand davorhielt, und damit tanzende Schatten in ihr Gesicht fielen, während die restlichen Kerzen erloschen. Sie wanderte nun die andere Wand entlang, auf der Suche nach einem Ausweg, oder wenigstens einem Hinweis, weshalb sie plötzlich hier war ... und diesen sollte Sarah sogleich finden.
Mit zitternden Fingern berührte sie den schmutzig silberfarbenen Rahmen, ehe sie einige Schritte zurück wich und die Kerze so hoch wie nur möglich hielt, und mit dem Blick langsam empor zu wandern. Sarah stieß leise die Luft aus, die sie vor Anspannung angehalten hatte. Es war eines dieser schweren Ölportraits, die sie seit jeher beeindruckend, doch zugleich auch angsteinflößend fand; die Menschen, die in solchen verewigt worden waren, wirkten unheimlich realistisch, so als würden sie in jenen Bildern weiterleben und den Betrachter mit ihren Augen verfolgen, egal, wo man sich im Raum aufhielt.
Sarah hatte sich in der Nähe solcher Bilder stets unbehaglich gefühlt, jedoch nie derart bei einem solchen Anblick gefröstelt, wie sie es nun tat; ein eisiger Schauer jagte ihr über den Rücken, und sie spürte regelrecht, wie sich die Härchen in ihrem Nacken sträubten.
Das Gemälde nahm einen großen Teil der Wand ein und zeigte eine überdimensionale Szene:
der Hintergrund war in dunklen Farben gehalten worden, während sich die Umrisse davon geschickt abhoben; Sarahs Blick glitt über die polierten, kniehohen Stiefel, folgte den schlanken Beinen und fing sich an der unglaublich detailliert dargestellten Brustpanzerung, an deren linker Schulter Nieten prangten. Die Hände, in dunklen Lederhandschuhen, ruhten übereinander gelegt auf dem Knauf eines Schwertes, dessen Spitze sich in den unebenen Boden bohrte. Der blutrote Umhang reichte ebenso weit und schien im Wind zu wehen, sodass Sarah unvermittelt an jene großen, und zugleich auch grausamen Könige ihrer Welt denken musste. Sie keuchte leise.
Dieses Gesicht. Der Anblick jener Augen löste einen erneuten Schauder aus. Es war seitlich portraitiert worden, doch schienen sie auf Sarah gerichtet zu sein und sie musste sich um ihre Fassung bemühen; in diesen Augen herrschte das Leben des Gemäldes, und sie wirkten hypnotisierend auf die junge Frau, sodass sie mit halb geöffneten Mund zurück starrte. Ja, ihre Außergewöhnlichkeit war ihr schon damals, als sie ein Kind gewesen war, aufgefallen, und irgendetwas daran war seltsam gewesen. Diesmal schienen sie sie jedoch regelrecht in ihren Bann zu ziehen. Sarah hielt ihre freie Hand vor den Mund und atmete aus, um sie zu wärmen.
Die markanten Züge wirkten ernst, schon fast ausdruckslos. Das Haar schimmerte schon fast golden und war vereinzelt von dunklen Strähnen durchzogen, und fiel so wild wie jeher in das schmale Gesicht und über die breiten Schultern. Feine, weiße Wölkchen ihres Atems stiegen auf, während sie dort verharrte; das schwache, flackernde Licht der Kerze in ihrer Hand die einzige Lichtquelle, die sie noch von der lauernden Dunkelheit trennte ...
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...