Trough dangers untold ...

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  Die Sonne stand mittlerweile weit am Horizont und brannte erbarmungslos auf Sarah nieder, die nach wie vor nach Anhaltspunkten suchte, um sich irgendwie orientieren zu können. Sie hatte gehofft, vertraute Stellen wieder zu entdecken oder sich an bestimmte Gabelungen zu erinnern, doch eine Mauer glich der anderen und so blieb ihr nichts anderes, als ihrer Intuition zu folgen. Sie hielt sich dicht an dem dunklen Gestein, das zumindest ein wenig Kühle und Schatten spendete, und hielt ihre Trinkpausen zu kurz wie nur möglich. Der Wurm hatte ihr noch ein wenig von seinem Wasservorrat spendiert, doch es war nicht viel und Sarah musste trotz der Hitze gut damit haushalten; sie durfte nicht zu viel darüber nachdenken, der Durst quälte sie.

Während sie schnellen Schrittes weiterlief, strich sie mit den Fingern über die Unebenheiten der Mauer. Wie viele Stunden mochten bereits vergangen sein? Seit sie hier war, hatte sie jegliches Gefühl für Zeit verloren, aber wenn sie zu spät wäre, würde der Koboldkönig sie es ohnehin wissen lassen; doch daran wollte sie nicht denken. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte das von ungezähmter, blonder Mähne umrahmte bleiche Gesicht vor ihrem inneren Auge auf, als sie sich nach all den Jahren wieder begegnet waren, und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte erschöpft gewirkt, schon fast kränklich. Von seinem früheren Glanz, mit dem er sie deutlich beeindruckt hatte, war nichts mehr übrig, und seltsamerweise hatte sein Anblick ihrem Herzen einen Stich versetzt – bis sie in seine Augen geblickt hatte. Sie hatte nichts als Verachtung darin gesehen, aber es war diese eisige Kälte darin, die sie mehr beunruhigte; er hatte sie zumindest in jenem Augenblick gehasst. In Sarahs Traum waren sie plötzlich tiefschwarz gewesen ...

Sie atmete aus um sich zu sammeln; sie konnte und wollte ihren Freund nicht kampflos aufgeben. Das war sie ihm und sich selbst – nach allem, was bisher geschehen war – schuldig. Wenigstens dieses eine Mal würde Sarah nicht aufgeben.
Gedankenverloren glitt sie weiterhin mit der Hand über den rauen Stein, aus dem an manchen Stellen ausgedörrtes Gestrüpp wucherte und von hellem, toten Moos überzogen war, und ärgerte sich über die scharfe Kante, die ihr einen kurzen Schmerz zufügte und sie die Hand wegziehen ließ, nur um im nächsten Augenblick vor Freude leise zu jauchzen. Eine Kante! Sie starrte die Wand vor sich an, die ihr den Weg zu versperren schien, legte die Hand wieder an die Mauer und folgte einfach dem Verlauf, sodass sie für einen Beobachter plötzlich im Nichts zu verschwinden schien.

„Dich kenn' ich doch!" Die schrille Stimme und der merkwürdige Anblick ließen Sarah zuerst einen Schritt zurück machen, bevor sie lächelnd inne hielt. Der Kopf und lange Hals wackelten aufgeregt. „Wach auf, na los", krähte der Vogelkopf lauthals, „sie ist wieder hier, sieh' nur. Willst du das wirklich verschlafen?!" Unter der breiten Krempe des Hutes lugte eine krumme Nasenspitze, sowie ein bodenlanger weißer Bart hervor. Ein Grunzen erwiderte das Gezeter des Vogels, und kurz streckten sich die kleinen, verschrumpelten Hände, ehe sie wieder auf die Lehnen des klapprigen alten Stuhls sanken und dort liegen blieben. „Es ist ja wirklich so anregend, dein Hut zu sein", kommentierte der Langhals trocken und rollte mit den großen Augen, bevor er sich wieder Sarah widmete.
Eine Sackgasse lag hinter den beiden merkwürdigen Bewohnern des Untergrunds, wie sie enttäuscht feststellte. Der ganze weite Weg bis jetzt war also umsonst gewesen; sie biss sich auf die Lippe, und versuchte, nicht gleich zu verzweifeln. Es musste einen Weg geben, aber um hin zu finden, musste sie sich zusammenreißen. „Hallo", grüßte sie den Hut, „du erinnerst dich noch an mich?"
„Pah", beantwortete der Langhals leicht beleidigt, „nur weil ich ein Hut bin, heißt das nicht, dass ich nichts im Köpfchen habe."

Sarah hob beschwichtigend die Hände, näherte sich den beiden. „Tut mir Leid, so war das nicht gemeint. Es ist ja doch schon lange her, seit ich hier war."
Langhals neigte den Kopf zur Seite, musterte Sarah aufmerksam. „Ja, schon gut. Da hast du allerdings recht, du hast dich ja ganz schön verändert seit dem letzten Mal. Wo warst du denn? Aber am wichtigsten: was willst du hier?"
„Ich bin wieder nach Hause zurückgekehrt", antwortete Sarah und spürte, wie sich ihr Magen drehte, als sie daran dachte, dass das Chaos wohl ihre Mitschuld war. „Und nun muss ich in das Schloss. Kannst du mir den Weg sagen?"
Der Greis begann leise zu schnarchen, was Langhals mit erneutem Augenrollen quittierte. „Hmm", machte er und durchbohrte Sarah mit seinem Blick, „Kurz nachdem du fort warst, verschwand auch der Koboldkönig. Merkwürdig. Aber ja, ich könnte dir den Weg sagen."

Plötzlich hob sich die Hand mit der Büchse darin, und was auch immer darin war, klimperte leise.
„Eine kleine Spende vielleicht, nachdem das Leben hier nicht mehr besonders ergiebig ist?"
Sarah seufzte leise, bevor sie den silbern funkelnden, winzigen Ohrring hervor nestelte und in das Döschen warf. „Dankeschön. Nachdem der Alte ja einfach verschläft, liegt es wohl an mir, dir weiter zu helfen. Nur so aus Neugierde: warum willst du denn da hin?" Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte nicht danach gefragt, aber sie hatte schon damit gerechnet. „Ich muss dringend etwas klären", wich sie ihm aus, „und dazu muss ich in das Schloss."
Der Blick, mit dem Langhals sie nun musterte, zeigte ihr klar und deutlich, dass er mit ihrer Antwort nicht zufrieden gestellt war, es aber dabei beließ.

Dann verengten sich seine Augen und mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr, näher zu kommen. Sarah folgte ihm mit leicht gerunzelter Stirn; die Situation wurde weiter beunruhigend, als sich der Vogel noch einmal umblickte, als ob er sichergehen müsste, dass sie wirklich alleine waren. Nachdem er sich vergewissert hatte, wandte er sich wieder der jungen Frau zu.
„Keine Angelegenheit kann wichtig genug sein, um da hin zu gehen", flüsterte Langhals und seine Augen huschten nervös umher, „glaub mir, Kindchen. Nimm meinen Rat an, den ich dir schenke: kehr um, solange du noch kannst. Es ist nirgends mehr wirklich sicher, aber innerhalb dieser Mauern ist es besonders gefährlich. Vergiss, weshalb du hergekommen bist, und geh nach Hause."
Erst schüttelte Sarah langsam ihren Kopf während der Langhals sprach, doch je mehr sie den Ernst in seinen Worten spürte, desto energischer wurden ihre Bewegungen. „Ich kann nicht, nicht, bevor ich das nicht erledigt habe. Ich muss zum König. Außerdem habe ich das Labyrinth schon einmal überw-"

„ Das alte Labyrinth, Kind! das hier ist nicht mehr dasselbe. Oh nein, das ist es ganz und gar nicht mehr. Es war früher schon gefährlich, aber jetzt ... da drin, in diesem verwesenden Herzen des Labyrinths, tummeln sich nun andere Kreaturen, denen du nicht begegnen möchtest. Dort ist es immer dunkel, auch wenn die Sonne hoch am Himmel steht, so wie jetzt. Warum denkst du, sind wir nun hier?" Der lange Hals reckte sich noch weiter in Sarahs Richtung, blickte sich noch einmal unsicher um. „Als wir vom Fall des Königs hörten, glaubten wir an seinen Tod, und du kannst mir glauben, dass viele dieses Ereignis gefeiert haben, weil sie ihn und seine Strafen gefürchtet haben. Aber jetzt – jetzt bereuen sie das, diese Dummköpfe, weil sie gesehen haben, dass auch der Untergrund langsam stirbt und sie mit ihm. Aber er-", mit den Augen deutete er auf den selig schnarchenden Greis, „und ich waren uns sicher, dass es damit nicht getan war. Es hat zwar ein paar Jahre gedauert und ein paar sind tatsächlich gestorben oder haben das Weite gesucht, aber dann begann sich das Labyrinth zu verändern und sind dort weg ... ein paar närrische Kobolde behaupten felsenfest, dass er zurück gekehrt wäre, aber niemand hat ihn seither gesehen. Nur diese unheimlichen Krähen wurden bisher gesichtet, und wütende Riesen sollen im Herzen des Labyrinths hausen."

Der Langhals holte tief Luft. „Verstehst du? Selbst wenn du es bis ins Schloss schaffen würdest – dort gibt es nichts. Es sind nur Gerüchte, dass er wieder da ist ... und falls er es doch sein sollte, nun ja ... es hieß, du hättest ihn gestürzt, und falls das stimmt ... wird er sehr wütend sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass du es auch wieder hinaus schaffst, ist ... – geh, geh nach Hause, und vergiss, weshalb du hier bist."
Sarah trat von einem Fuß auf den anderen. Sie wusste schließlich, dass es sich dabei um kein Gerücht handelte, und war sich durchaus bewusst, dass ihr Vorhaben mit Gefahren verknüpft war. Der Langhals meinte es nur gut mit ihr und sicher wäre es klüger gewesen, seinem Rat zu folgen, dennoch konnte sie Hoggle nicht im Stich lassen – nicht schon wieder.
Sie blies eine der langen Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor sie antwortete.
„Ich kann nicht. Jedenfalls noch nicht. Erst muss ich unbedingt ins Schloss, aber dazu brauche ich deine Hilfe. Bitte."

Sarah faltete die Hände, tippte damit flehend gegen ihre Lippen, und beobachtete Langhals, der sie kritisch musterte und schließlich seufzte. „Du bist wohl nicht umzustimmen, was?", gab er nach, „ich will nur hoffen, dass das, was sich in den Ruinen befindet, es auch wirklich wert ist."
Sarah setzte ein sanftes Lächeln auf. „Ja, das ist es." Der Hut betrachtete sie noch für einen kurzen Augenblick, so als wollte er in ihrem Gesicht lesen, ob sie die Wahrheit gesprochen hatte.
Diesmal seufzte er ausdauernder. „Na schön." Er rollte mit den Augen, und verdrehte den Hals soweit wie er nur konnte. „Du musst da lang. Aber sag dann nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Kind."
Sarah hob irritiert eine Augenbraue. „Das ist doch eine Sackgasse-"
„Nein, nein", krächzte der Hut und wackelte unruhig umher, als der Greis sich wand und in eine bequemere Position brachte. „Geh einfach weiter, du wirst schon sehen." Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu, doch der Hut schien absolut sicher zu sein; kleine Steinchen knirschten leise unter ihren Sohlen, als sie sich der Mauer immer weiter näherte, bis sie schließlich davor stand und sich noch einmal irritiert umwandte. „Da ist aber die ...-"

„Streck deine Hand aus, wenn du mir nicht glaubst", krächzte der Langhals hinter ihr nach, „du wolltest den Weg wissen: da geht's lang."
Sarah kam sich unglaublich lächerlich vor, als sie tatsächlich zögernd ihren Arm ausstreckte; ihr Verstand sagte ihr, dass sie gleich schnurstraks gegen eine Mauer laufen würde, doch sobald ihre Finger das Gestein berührten, würde der Hut auch einsichtig werden müssen ...
Doch nichts dergleichen geschah. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, aber berührte die Mauer nicht; sie hielt inne und suchte erneut den Blick des Hutes, der jedoch in einige Entfernung gerückt war, und erkannte nun die Kanten der Mauer. Plötzlich begriff sie, dass sie bereits einen neuen Weg betreten hatte, und ihre Augen getäuscht worden waren.

„Noch kannst du umkehren", hörte sie den Langhals sagen, und meinte, eine leise Traurigkeit darin zu hören. Der Hut wusste, dass sich dieses sture Menschenmädchen nicht davon würde abbringen lassen; ihre Augen verrieten es ihm, und als sie ihm trotz der Gefahren, von der er ihr berichtet hatte – ein breites Lächeln zum Abschied schenkte, erfüllte ihn ein wärmendes Gefühl, eines, wie er es seit Jahren nicht mehr im sterbenden Untergrund gespürt hatte.

„Nichts ist hier, wie es scheint. Vergiss das nicht, Kind. Vergiss das niemals", rief er ihr noch nach, als sie schließlich verschwand. Im nächsten Augenblick durchbrachen dicke und dünne, tote Ranken die Erde an jener Stelle, durch die das Mädchen gerade getreten war; sie wanden sich knackend ineinander und bildeten eine dichte, mit Dornen versehene Mauer.
Der Langhals hatte das Geschehen still beobachtet; eine dicke Träne kullerte hinab, auf die runzlige Hand des Greises, der jedoch nur erschrocken grunzte, ehe er weiter schlief. „Sie wird es nicht schaffen", sagte der Langhals leise, ehe er mit den Augen rollte. „Es ist, wie immer, so anregend, dein Hut zu sein."  

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