Wieder einmal hatte Mary Williams es geschafft, ihre Stieftochter zur Verzweiflung zu bringen; die Tränen brannten in Sarahs Augen, doch sie wollte dieser schrecklichen Frau nicht die Genugtuung geben. Sie war doch kein Kind mehr.
Sarah löschte das Licht im Zimmer. Anschließend tappte sie in das zugehörige kleine Bad und gönnte sich eine ausgiebige heiße Dusche, als könnte sie damit ihre Probleme fortspülen. Danach wickelte sie sich in ihren weichen Morgenmantel und ging zu ihrem Bett, wo sie das kleine Lämpchen einschaltete. Dann ließ sie sich mit einem langen, erlösenden Seufzer darauf fallen, und verharrte eine Weile so.
Sie würde noch ein wenig lesen, bevor sie sich schlafen legte; es würde ihr wenigstens ein bisschen Ablenkung bringen. Sie überkreuzte die Beine in der Luft und tastete nach dem Buch, bis sie es zu fassen bekam. Hatte es einen Ledereinband, so war er ihr zuvor nicht aufgefallen. Sie zog es näher zu sich, betrachtete es mit gerunzelter Stirn. Sie war sich sicher, dass sie ein anderes Werk zuvor gewählt und auf dem Bett hinterlassen hatte, nicht dieses.
Sarah fühlte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, als sie den tiefroten Einband betrachtete, der durch die Zeit in Mitleidenschaft gezogen worden war. The Labyrinth, prangte in goldenen Lettern darauf. „Wie kommt es hierher?", flüsterte sie leise, drehte und wendete es in ihren Händen. „Ich ... ich habe es bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, hatte es vollkommen vergessen." Sie schloss die Augen. „Durch unsägliche Gefahren und unzählige Widerstände habe ich mir meinen Weg erkämpft bis zu diesem Schloss am Rande der Koboldstadt, um das Kind zurück zu holen, das du gestohlen hast. Denn mein Wille ...", zitierte sie leise, „mein Wille ... verdammt noch mal. Ein unheimliches Werk."
Sarah fegte das Büchlein vom Bett, kroch unter die Decke und lauschte dem Gewitter, das nun auch ihre Heimatstadt zu erreichen schien. Es war furchtbar warm darunter, aber sie fühlte sich – so kindisch das klang – sicherer. Wie hatte sie es nur geschafft, das alles zu vergessen? Nein, schalt sie sich. Das waren bloß die Hirngespinste einer verzweifelten Minderjährigen, nichts davon war je real. Ja, so musste es einfach sein – schließlich hatte sie diese seltsamen Wesen nur in jener Nacht gesehen und danach nie wieder; vermutlich imaginäre Freunde, weil sie sich einsam und verletzlich gefühlt hatte. Dann waren die Jahre ins Land gezogen, andere Dinge waren wichtiger geworden und hatten sie vergessen lassen. „Ich werde es morgen wegwerfen", versprach Sarah sich leise selbst, bevor sie nun auch dieses Licht löschte, ehe sie sich einrollte und in einen unruhigen Schlaf fiel.
Da war ein kleinwüchsiger, merkwürdig aussehender Mann mit grauen, buschigen Augenbrauen; seine großen Glupschaugen starrten etwas, das Sarah jedoch nicht ausmachen konnte, angsterfüllt an.
„Nein, nein", flüsterte er kopfschüttelnd, „bitte. Wir wissen nichts." Er faltete die Hände flehentlich, ging in die Knie. Wovor fürchtete er sich so sehr? Er schien Worten zu lauschen, die Sarah nicht hören konnte, und ließ schließlich resigniert den Kopf hängen.
Im nächsten Augenblick schien sie wie ein Vogel über den Himmel zu gleiten; was sie sah, erinnerte sie an eine verwüstete, verlassene Stadt, inmitten einer Wüste. Verfallene Häuser und Mauern, sowie die Ruinen eines Schlosses und überall dieser blutrote Sand.
Sie kannte diesen Ort ...
Sarah, Sarah, Sarah, Sarah ... SARAH.Ein Donnergrollen, so laut, dass die Fensterscheiben vibrierten, ließ sie hochfahren; der Baum vor ihrem Fenster knarrte und ächzte unter dem Sturm. Sie schwang sich aus dem Bett, eilte zu dem noch geöffneten Fenster und tappte in einen nassen Fleck im Teppich, den der Regen hinterlassen hatte. Nachdem sie es geschlossen hatte, kehrte sie zu ihrem Bett zurück - und stutzte. Das kleine Buch lag fein säuberlich auf ihrem Kopfkissen. Wurde sie verrückt? „Sehr witzig", murmelte sie, nahm es und schleuderte es in ein dunkles Eck ihres Zimmers, bevor sie unter die Decke kroch und den Arm vor die Augen legte. Wie sollte sie jetzt noch an Schlaf denken können?
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...