Sarah warf noch einen letzten prüfenden Blick in den schmutzigen Spiegel der Flughafen-Toilette; ihr Flieger war mehr als pünktlich gelandet, und so blieben ihr glücklicherweise noch ein paar Minuten, bis ihr Vater eintreffen und sie abholen würde.
Die flackernde Neonröhre, die ein kaltes weißes Licht spendete, verbesserte ihr Spiegelbild nicht unbedingt. Sie rieb sich die müden Augen, unter denen sich die ersten, feinen Fältchen gebildet hatten. Das dunkle Haar, das sie immer noch lang trug, hatte sie zu einem lockeren Dutt gebunden, aus denen sich bereits einige Haarsträhnen gelöst hatten. Sie wirkte blass.Hektisch durchwühlte Sarah die kleine Handtasche, und lächelte nervös eine Frau an, die ihr einen merkwürdigen Blick zugeworfen hatte. Sie hatte es nun mal eilig, was ging das eine Fremde überhaupt an?
Der kleine Lippenstift in der silbernen Fassung lag leicht und glänzend in ihrer Hand. Sie trug ihn sorgfältig auf ihren Lippen auf und formte einen Kussmund, ehe sie ein wenig auf ihre Wangen verteilte, damit diese rosiger wirkten. Dann nickte sie zufrieden, nur um im selben Moment die Luft langsam auszustoßen. Egal, wie viel Aufwand sie in ihr Erscheinungsbild steckte, ihre Stiefmutter würde immer etwas zu meckern haben. Zu dünn, zu blass, immer noch unverheiratet und keine Kinder, ganz alleine in einer großen Stadt.
Ich bin siebenundzwanzig, und es bleibt noch genug Zeit, um eine Familie zu gründen. Vielleicht, vielleicht aber auch niemals.Sie schüttelte den Kopf und vertrieb damit den lästigen Gedanken, und betrat dann die Empfangshalle. Ihr Vater begrüßte sie mit einem breiten Lächeln und breitete seine Arme zu einer Umarmung aus, die Sarah nur zu gerne annahm.
Die eineinhalbstündige Fahrt verbrachten sie zu einem Großteil schweigend, so wie sie es nicht anders von ihm erwartet hatte. Er war kein Mann großer Worte, machte sich aber insgeheim Sorgen um seine Tochter - doch sie war erwachsen, und musste wissen, was sie tat. Es war einfach nur schön, sie nach fast einem halben Jahr wieder zu sehen.Bäume, Ortschaften und allmählich beleuchtete Straßenlaternen zogen an ihnen vorbei, bis der graue Wagen in die Einfahrt des gepflegten Hauses auffuhr und mit leise quietschenden Bremsen ihre Ankunft verkündeten. Tatsächlich öffnete sich die Tür und ihre verschrobene Stiefmutter kam hinaus, die Hände vor dem Mund gefaltet, als wäre sie hocherfreut. Sarah verkniff sich den bissigen Kommentar, der ihr dazu auf der Zunge lag, und stieg aus.
Sie beachtete Mary, ihre Stiefmutter nicht weiter, und machte sich daran, ihren Koffer aus dem Auto zu hieven, doch ihr Vater kam ihr zuvor. „Ach, lass nur. Geh ins Haus, ich mach das schon", wimmelte er seine Tochter ab, die noch widersprechen wollte, jedoch von ihrer Stiefmutter davon abgehalten wurde; die Hände mit den rot lackierten Fingernägeln schlossen sich um Sarahs Arm und zogen sie mit sich. „Komm rein, Sarah. Du siehst ja schrecklich müde aus, Kind, isst du auch genug? Du bist so dünn, komm, ich mach' dir was von der Hühnerbrühe warm." Sarah stolperte in das Haus, das sich seit ihren Kindheitstagen kaum verändert hatte. Immer noch dieselben hässlichen rosafarbenen Vorhänge im Wohnzimmer, bemerkte sie.Sie befreite sich mit Nachdruck. „Nicht nötig. Ich muss erstmal meine Sachen verstauen und eine Dusche täte mir jetzt ganz gut. Danke, Mary." Wofür bedanke ich mich überhaupt? Es fiel ihr schwer, nicht zynisch zu klingen.
Ihre Stiefmutter seufzte theatralisch. „Na schön. Wir essen um sieben zu Abend, Toby sollte dann schon von seinem Freund zurück sein." Ein klopfendes Geräusch ließ beide zur Tür sehen. Ihr Vater schob den Koffer in den Eingangsbereich, reichte Sarah ihre Handtasche. Dann wollte er den Koffer nach oben bringen, doch Sarah hob abwehrend die Hände, und trug ihn selbst, sehr zum Missfallen ihrer Eltern - ihres Vaters, verbesserte sie sich.„Sie sieht nicht gut aus, aber möchte sich nicht von mir helfen lassen", konnte sie ihre Stiefmutter ihrem Vater zuraunen hören, als sie am Treppenabsatz angekommen war.
Erleichtert schloss sie die Tür ihres alten Zimmers, rollte mit den Augen. „Lauter ging es wohl nicht", murmelte sie und sah sich um; sie erkannte ein paar ihrer alten Stofftiere in dem Regal an der Wand, sowie ihre gesamte alte Sammlung an Märchenbüchern, die sie damals regelrecht studiert hatte. Sogar die alten Poster hingen noch an dem Frisiertischchen.
Dennoch war es stickig, sodass sie das Fenster öffnete, vor dem sich der Baum mit seiner mächtigen Krone befand. Die frische Luft wirkte befreiend.Sie nahm auf den knorrigen Stuhl vor dem Frisiertischchen Platz, öffnete die Lade und fand darin ihre alte Bürste; sie öffnete ihr Haar und begann, es vorsichtig zu kämmen. Mittlerweile war es so lang, dass es bis zu ihrem Hintern reichte und neben ihren dichten, dunklen Augenbrauen als ihr Markenzeichen galt. In den Rollen, die mir bisher keinen sonderlichen Erfolg gebracht haben, dachte sie bitter.
Dabei hatte doch alles so gut angefangen: sie war an der Akademie für Schauspiel angenommen worden, hatte diese mit herausragendem Erfolg abgeschlossen und war schließlich endgültig nach New York gezogen, weil ihre Lehrer ihr dort die besten Chancen vorausgesagt hatten. Tatsächlich hatte sie recht schnell Rollen an Land gezogen, aber es stellte sich schnell heraus, dass sie mit jenen nie an den Erfolg ihrer Mutter, Linda, anschließen konnte. Sie wurde regelmäßig als Model gebucht, doch auch diese Jobs wurden weniger, je älter Sarah wurde. Würde Mum noch leben, wäre sie sicher stolz auf mich, dachte sie spöttisch und fühlte sogleich einen Stich im Herzen, als ihr Blick auf das alte Foto ihrer Mutter fiel.Sie legte die Bürste weg, stand schnell auf, um die Traurigkeit zu verscheuchen. Das gemeinsame Abendessen mit anschließender Befragung ihrer Stiefmutter würde schon anstrengend genug werden, sie durfte nicht in Tränen ausbrechen; schließlich hatte sie geplant, sich ein wenig Erholung zu gönnen.
Mit dem Finger strich sie über die Märchenbücher, blieb dann an der Ausgabe von ‚Schneewittchen' hängen und zog das Buch hervor.
„Sarah, bist du soweit? Komm zum Essen!", drang die Stimme ihres Vaters dumpf durch die geschlossene Tür.
Vielleicht würde sie später ein wenig darin lesen, wenn im Haus Ruhe eingekehrt war. Sie warf das Buch auf das Bett, wo es lautlos landete, ehe sie sich auf den Weg nach unten machte.Das Essen lief, so wie Sarah es sich erwartet hatte: erst begrüßte sie ihren pubertierenden Halbbruder, der sich zwar freute, seine Schwester zu sehen, aber sonst nicht wirklich viel Interesse an einem Gespräch zeigte. Der Tisch bog sich schon fast unter der Last an Speisen, die Mary vorbereitet hatte, und Sarah notierte gerade das kitschige Geschirr, als sie schon von ihrer Stiefmutter zum Essen aufgefordert wurde, weil sie viel zu dünn wäre.
Als nächstes wurde sie in die Mängel genommen, weil sie sich ja nie melden würde und nur so selten zu Besuch käme, und dass es sie und ihren Vater verletzte, dass die Tochter sie offenbar mied. Deine Tochter?, hinterfragte sie spöttisch in Gedanken, bestimmt nicht. Und hast du dich je gefragt, was der Grund für meine seltenen Besuche sein könnte? Wohl eher nicht.
Sarah hatte alles still über sich ergehen lassen, lustlos in dem Kartoffelbrei herum gestochert und ein paar Erbsen gegessen, bis Mary bei dem Thema angelangt war, bei dem sie nicht schweigend dasitzen konnte.Ihre Stiefmutter setzte einen mitleidigen Ausdruck auf. „Mit deiner Schauspielerei scheint es nicht so gut zu laufen, nicht wahr? Vielleicht solltest du nach Hause kommen und in der Firma deines Vaters beginnen ...-" Sie erschrak, als Sarah mit Wucht eine Erbse aufspießte, dabei klirrend über den Teller kratzte, sodass Toby sich die Ohren zuhielt. Dann ließ sie die Gabel fallen.
„Ich wüsste nicht, warum ich mit dir darüber sprechen sollte. Danke, es geht mir gut. Wenn ihr mich entschuldigt, ich muss mich ausruhen." Sarah warf die Serviette auf den fast vollen Teller. Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Sie erhob sich, verließ den Tisch und nahm mehrere Treppen auf einmal nach oben.
„Aber-" Mary klang erzürnt.
„Lass sie, Schatz. Sie wird sich schon beruhigen; sie ist müde, morgen sieht die Welt schon besser aus."Ah, wie sehr sie das hasste! Ihr Vater hatte sich kein Stück verändert. Alles, was diese Frau sagte, war in Ordnung, auch wenn sie damit andere verletzte und diffamierte. Auch, wenn es die eigene Tochter war. Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss und sperrte ab, auch wenn sie wusste, dass sowieso niemand kommen würde.
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...