ACHTUNG: TRIGGERWARNUNG - Blut, Selbstverletzung
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Ich muss weiter, durchfuhr es sie, ich sollte nicht hier bleiben. Dieser Ort war ihr nicht nur unheimlich, sie hatte auch die dringende Ahnung, gar nicht hier sein zu dürfen. Der herablassende, kühle Ausdruck des Portraits schien sie noch darin zu bestätigen. Sie riss sich von dem Anblick los, und wurde dennoch das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.
Mit laut klopfendem Herzen schwenkte sie die Kerze und zischte leise, als heißes Wachs auf ihre Finger troff und schmerzhaft brannte ... und meinte, aus dem Augenwinkel heraus eine längliche dunkle Struktur und ein kurzes Funkeln ausgemacht zu haben. Ein Türknauf, der im fahlen Licht schimmerte, womöglich ein Ausweg? Eiligen Schrittes steuerte Sarah darauf zu, ignorierte das schmerzhafte Pochen des weiteren Wachses, das ihre Haut bei der hastigen Bewegung benetzte. Es war – ein Spiegel. Er wurde von einem ebenso pompösen Rahmen umgeben: in das fast schwarze Holz waren in vermutlich jahrelanger Arbeit verschiedenste Muster geschnitzt worden, aber auch grauenhaft verzerrte Gesichter verschiedenster Wesen, von denen Sarah nur hoffen konnte, dass sie solchen im Untergrund nie begegnen würde.
Der Spiegel musste bereits sehr alt sein; an manchen Stellen trübte sich das Bild bereits. Sarah presste die Lippen zusammen, berührte zaghaft ihre Wange; ihr Spiegelbild tat es ihr gleich. Es zeigte eine erwachsene junge Frau, die in der Blüte ihres Lebens stand, und dennoch zierten dunkle Schatten ihre Augen. Die Lippen wirkten trocken und rissig, während ihr Haar strähnig und kraftlos herabhing; die Haut spannte sich förmlich über ihre Brust, sodass die Schlüsselbeine stark hervortraten und nebst ihren schmalen Armen verrieten, dass sie ihre Gesundheit bereits längere Zeit lang keine Beachtung mehr geschenkt haben musste. Die strahlenden, grünen Augen und dunklen Brauen, die sich zu ihrem Markenzeichen als Schauspielerin entwickelt hatten, wirkten nun stumpf und müde.
Sarah schluckte, musste gegen das aufsteigende, beklemmende Gefühl, das sich in ihrer Brust ausbreitete, ankämpfen. Wann hatte sie ihr unbeschwertes, fröhliches Dasein gegen dieses abgekämpfte, Lebensmüde eingetauscht ...?
Beim erneuten Anblick des Spiegels erschrak sie so sehr, dass es sie aus ihren Gedanken riss. Ihr Spiegelbild hatte sich merklich verändert; Sarah war zurück gewichen, doch ihre Abbildung hatte die Hand noch immer an der Wange, strich sich eine Strähne des Haars hinter das Ohr und lächelte still, während die schwarz verfärbten Augen Sarah anstarrten, als würden sie sich über sie lustig machen.
Sie spürte den plötzlichen eisigen Luftzug um ihre Schultern, sodass sie intuitiv die Hand schützend vor die kleine Flamme hielt, die ihre letzte Lichtquelle und ein lächerliches Fünkchen Sicherheit darstellte. Dann widmete sie sich wieder dem seltsamen Spiegel.
Das kleine gelbe Licht erlosch, noch bevor die Kerze den Boden berührte und den das Gemach in weitläufige Dunkelheit hüllte; das heiße Wachs ergoss sich auf dem Boden und formte skurrile Muster. Nur das diffuse Licht des Mondes, das durch die Fenster fiel und es trüb-farbig aussehen ließ, durchbrach die völlige Finsternis.
Sarah wollte, aber konnte einfach keinen Laut hervorbringen oder sich bewegen. Stattdessen starrte sie mit offenem Mund in das Antlitz des Koboldkönigs, der hinter ihrem Spiegelbild aus der Dunkelheit hervor trat und sie kühl musterte, ehe er ein überlegenes Lächeln aufsetzte und noch näher an ihre Spiegelung herantrat; das Herz der jungen Frau raste, sodass das Blut in ihren Ohren rauschte und sie meinte, vor Angst gleich den Verstand zu verlieren.
Flach atmend und betont langsam warf sie einen Blick über ihre Schulter, doch sie war allein. Und dennoch - egal, wie sehr sie sich zwang, davon zu laufen und einer drohenden Gefahr zu entgehen – sie rührte sich nicht von der Stelle, zu sehr lähmte sie die Furcht – und die krankhafte Neugier, was wohl als nächstes geschehen würde.
Nun hielt der König direkt hinter ihrem Spiegelbild, das immer noch lächelte und diesmal erwartungsvoll wirkte, inne. Er überragte Sarah, doch er neigte seinen Kopf nahe an den ihrer Spiegelung. Sie beobachtete, wie seine Arme erschienen; einer legte sich um ihre Hüfte, während der andere ...
Ein gellender Schrei entfuhr ihrer Kehle, der jedoch sogleich verklang. Sie spürte den Arm um ihre Hüfte und die Hand, die auf ihrem Bauch verharrte; als sie schluckte, konnte sie den sanften Druck fühlen, der durch den kühlen, ledernen Handschuh auf ihre Kehle ausgeübt wurde und sie zwang, den Kopf aufrecht zu halten und in den Spiegel zu blicken. Strähnen fremden Haars strichen über ihre eingefallenen Wangen und sie nahm einen intensiven, für sie bedrohlichen Duft wahr. Das süffisant lächelnde Spiegelbild ihrer selbst war verschwunden; stattdessen blickte sie in ihr angsterfülltes, starres Gesicht und ihre Brust, die sich rasch hob- und senkte.
„Ich weiß, was du gesehen hast." Die Stimme des Koboldkönigs war kaum mehr als ein sanftes Flüstern; sein Atem drang sacht an ihr Ohr. Seine ungewöhnlichen Augen durchbohrten Sarah förmlich, sodass das beklemmende Gefühl in ihrer Brust unerträgliche Ausmaße annahm.
Seine Hand verließ ihren Bauch, strich bedacht langsam über ihren schmalen Arm, als kostete er jede Sekunde ihrer Hilflosigkeit aus; etwas Kaltes ließ sie kurz zusammen zucken, bis sie jenes silberne Schmuckstück entdeckte, das seinen Zeigefinger umschloss und mit einer extrem dünnen Spitze endete.
Es erinnerte an eine messerscharfe Kralle, die leise schabend über die Haut glitt. Er ließ sich Zeit, bis er ihr Handgelenk erreichte und las in dem Spiegel in ihrem Gesicht und in ihren Augen, während er die helle Innenseite dem Spiegel zudrehte; das Licht mochte schwach sein, doch die bleichen, sich abhebenden Stellen waren deutlich zu erkennen. Es waren mehrfache, säuberlich angeordnete Linien. Sarah ballte die Hand zur Faust und wollte sie ihm ruckartig entreißen, doch sein Griff war eisern. Sie kam nicht umhin, ein wütendes Zischen auszustoßen, doch der König ließ sich nicht beirren.
Mit dem Daumen glitt er über die empfindlichen Stellen und trieb damit Sarah Tränen der Verzweiflung und Wut in die Augen. „Du wolltest sterben."
Die Brust der jungen Frau erbebte merklich; sie schluckte, und spürte immer noch Jareths Griff um ihren schlanken Hals, zog es jedoch vor, ihm nicht zu antworten. Ihre Vergangenheit und Probleme gingen absolut niemanden etwas an. Trotzig wandte sie den Blick ab.
„Schau mich an." Ein kurzer Ruck, und er zwang sie mit gestrecktem Nacken in den Spiegel zu blicken, was sie mit Widerwillen tat; Sarah wusste, dass er ihr ganz nahe war, fühlte den Druck seines Körpers gegen ihren, doch da war keine Wärme, da war nichts.
Sie erwiderte seinen Blick mit einem wütenden Funkeln. „Was interessiert es dich", presste Sarah zwischen den Zähnen hervor, „was ich tue?"
Die silberne Spitze drückte unangenehm auf ihre Haut, verletzte sie jedoch nicht weiter. Das leise, melodische Lachen irritierte Sarah merklich; der Druck an ihrem Arm ließ nach, als er ihn auf ihre Brust legte und dort festhielt. Voller Überraschung stellte sie fest, dass seine kühle Unnahbarkeit verschwunden war, obwohl er sie nach wie vor fixierte; sie glaubte, eine leise Traurigkeit und Bedauern darin zu sehen.
Für einen Augenblick war ihre Angst wie fortgewischt; jene Situation hatte etwas merkwürdig Vertrautes an sich, sodass ihre Anspannung unwillkürlich wich. Es schien unendlich viel Zeit zu vergehen, in der sie einander wortlos in dem Spiegel betrachteten, bis der König beinahe zärtlich über ihren Hals strich, und eine Welle der Erschütterung erfasste, als er seinen Kopf an ihren lehnte. „Weshalb hast du den Tod herbei gesehnt, Sarah?", fragte er leise. Seine Frage, und die Ruhe, die ihr inne wohnte, trafen Sarah regelrecht ins Herz, und der Anblick ihres abgekämpftes Spiegelbilds ließen ihre Fassung brechen; sie spürte die aufsteigenden Tränen, die sie nicht halten konnte – und wollte ...
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...