Sarah hüstelte leise und blinzelte müde. Ihr Körper fühlte sich merkwürdig bleiern und schwer an, so als würde er gar nicht zu ihr gehören; ihr Bewusstsein kehrte unterdessen allmählich zu ihr zurück. Ihre Sicht war nach wie vor verschleiert, und selbst der rot verfärbte Horizont tat ihren empfindlichen Augen weh; das zunehmende Brennen in ihren Lungen ließ sie sich auf die Seite rollen und heftiger husten als zuvor, sodass ihr einmal mehr klar wurde, dass sie nicht tot war.
I hate you for the sacrifices you made for me
I hate you for every time you ever bled for me
Was immer geschehen war – es hatte sich merkwürdig angefühlt. Langsam stützte sie sich auf ihre Hände, deren Finger sich in den Sand gruben, und fühlte jedoch immer noch die Schwäche, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte. Erst, nachdem ihre Sinne wieder vollständig zu ihr zurück gekehrt waren und sie ihren Blick schweifen hatte lassen, begriff sie voller Entsetzen: der Himmel war nicht einfach nur leuchtend rot durch die Sonne verfärbt, es waren die unzähligen Flammen, die sich an den kleinen Häusern und dem Schloss in der Ferne labten und ein weiteres, unüberschaubares Flammenmeer, das sich durch das Labyrinth fraß. Dunkle, Unheil verkündende Rauchsäulen stiegen überall auf, egal, wohin Sarah blickte. Ein Grollen erklang, und mit vor den Mund geschlagener Hand beobachtete sie, wie ein Turm des Schlosses in sich zusammenbrach, so als würde es wissen, dass sie zusah. Sie hustete. Rauch, Schwefel ... und verbranntes Fleisch und Knochen. Im selben Augenblick stieg Übelkeit in ihr hoch, als sie daran -dachte, dass unzählige Kobolde soeben ...Blood, blood, blood
Pump mud through my veins
Shut your dirty, dirty mouth
I'm not that easy
„Kein besonders schöner Anblick, nicht wahr?"
Sarah rappelte sich so schnell sie konnte auf, ignorierte dabei den drohenden Schwindel und wirbelte herum; die samtene, tiefe Stimme war unmittelbar hinter ihr erklungen, doch da war nichts. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, jederzeit bereit zum Angriff. Ein erneutes wütendes Grollen, das diesmal ein deutliches Vibrieren des Bodens nach sich zog, und eine Windbö, die nicht nur den fauligen Geruch mit sich trug, ließ sie sich wieder umdrehen, doch dies bewusst langsam und mit geschlossenen Augen.
Als Sarah sie wieder aufschlug, beobachtete sie nicht nur voller Grauen, wie ein Großteil des einst gewaltigen Schlosses in sich zusammenstürzte, sondern erblickte auch eine in einen schwarzen Umhang gehüllte große Gestalt vor sich, die das Schauspiel ebenso mitangesehen hatte. Erst, als eine dichte Staubwolke aufgestiegen war, wandte sie sich Sarah zu. Sie hatte diesen Duft, seinen Duft, sofort erkannt, ebenso seine Stimme, die sie einschüchtern oder einlullen konnte ...
Die dunklen Handschuhe umfassten die weite Kapuze des Umhangs - und Sarah prallte überrascht zurück. Schwarzes, ebenso ungezähmtes Haar, das vereinzelt von blonden Strähnen durchzogen war und an manchen Stellen silbern schimmerte, kam zum Vorschein; es umrahmte das allzu bekannte, und dennoch fremde Gesicht, durch dessen unnatürlich helle Haut sich dunkle Venen abzeichneten. Die schmalen Lippen formten ein Lächeln, entblößten dabei kurz die spitzen Zähne. „Du scheinst überrascht zu sein", raunte die vertraute Stimme, während die Augen, deren Farbe einem Obsidian glich, sie fixierten; als sich ihre Blicke trafen, jagte ein eiskalter Schauer über Sarahs Rücken. „Wer zum Teu- ...?"
Die Gestalt schnalzte tadelnd mit der Zunge; lautlos näherte sie sich, stützte sich schließlich auf dem Gehstock mit dem Kristall als Knauf. „Der Geist der vergangenen Weihnacht. Das weißt du sehr genau, Sarah." Erneut dieses böse Lächeln. „Aber ich verstehe: deine Gedanken sind noch nicht geordnet, und ja, ich mag dir vielleicht anders erscheinen als sonst." Eine kurze, angedeutete, dennoch nicht weniger elegante Verbeugung folgte. „In deiner Welt werde ich der schwarze Mann genannt, der gerne unartige Kinder holt und frisst." Er lachte leise und spöttisch, ehe er fortfuhr: „Wie wir beide wissen, tue ich das nicht. Nun denn: hier bin ich der Herrscher und Gebieter des Untergrundes, der Vater der Verstoßenen und Ungeliebten, der Koboldkönig – zumindest war ich es, bis du gekommen bist. Ich bin das Labyrinth und seine Mauern, ich bin die Erde und die Saat, ich bin das Leben, das durch die Adern des Untergrunds pulsiert, und das du beinahe ausgelöscht hättest." Sarah antwortete nicht; ihr lagen so viele Worte auf der Zunge, und dennoch brachte sie keines davon hervor. Sie musterte die schlanke Gestalt, die den Kopf fragend zur Seite neigte; ihr Verstand wollte ihr offenbar Streiche spielen.
Es war offensichtlich der Koboldkönig, der vor ihr verweilte, mit derselben melodischen Stimme und dem spöttischen Ausdruck in den markanten Gesichtszügen. Sarah wusste, dass er die Gestalt einer Eule annehmen konnte – also warum sollte er nicht auch sein Aussehen beliebig verändern können? Ihr Gedanke erschien ihr logisch, dennoch irgendetwas verstörte sie regelrecht bei seinem Anblick.
Erneutes husten riss sie aus ihren Gedanken und erschwerte ihr das Atmen, sodass sie den Ärmel ihres schmutzigen Sweaters schützend vor Mund und Nase hielt; der Rauch ließ ebenso ihre Augen tränen. „Was ist passiert?", presste sie mühsam hervor und sah, dass sich der Koboldkönig unterdessen von ihr abgewandt hatte und beobachtete, wie die Flammen sich durch den Untergrund fraßen und immer näher kamen; er kümmerte sich nicht darum. „Was ist pass ...-?"I love you for everything you ever took from me
Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie, wie der fließende Stoff des Umhanges umherwirbelte und zu verschwinden schien, ehe sie kühles Leder fühlte, das sich um ihren Hals legte und einen weiteren festen Griff, der ihr Handgelenk schmerzhaft umklammerte; Patcouli stieg in ihre Nase, bevor sie unsanft und schnell an den Rand der Klippe gedrängt wurde. Kleine Steinchen lösten sich, als ihre Sohlen über den Rand hinaus ragten, sodass sie verzweifelt versuchte, zurück zu weichen, und dabei nur hart gegen einen Widerstand stieß; ein kurzer, scharfer Schmerz durchfuhr sie, als etwas die Haut an ihrem Hals durchdrang, und sie inne halten ließ. Vor ihr lag das Tal, über das sie schon einst geblickt hatte, als ihre Reise zur Rettung ihres Bruders begonnen hatte, doch es hatte nichts mit dem damaligen Anblick mehr zu tun ...
„Wie wundervoll muss deine Feier gewesen sein, als du mich gestürzt hast", zischte der Koboldkönig in ihr Ohr, „ein wahres Fest der Freude, nicht wahr? Nicht wahr?"
Sarah wand sich, doch die Hand glitt an ihre Kehle, und etwas bedrohlich Kaltes schabte dabei über die glatte Haut, sodass alles in ihr nach Flucht schrie; dann fixierte der Handschuh ihr Kiefer, so wie es in ihrem Traum geschehen war, und zwang sie damit, den zerstörten Untergrund anzusehen. Als sei Zeigefinger über ihre Wange strich und dasselbe grausig schabende Geräusch wie zuvor in ihren Ohren hallte, wusste sie sogleich, was zuvor diesen scharfen Schmerz ausgelöst hatte: ein monströser Ring, der an der Fingerkuppe zu einer spitz zulaufenden, messerscharfen Kralle geformt war; an der Spitze formte sich ein winziger Tropfen Blutes, das sie als ihr eigenes erkannte. Das Silber war so rein, dass sie ihr eigenes Auge darin wiederspiegeln sehen konnte.I love the way you dominate and you violate me
Lange Strähnen des schwarzen Haars fielen über ihre eigenen Schultern, als sich der Koboldkönig zu ihr hinab neigte, und es war nicht nur sein Atem dicht an ihrem Ohr, der ihre Eingeweide verkrampfen ließ. Ihre Resignation, nachdem sie verstanden hatte, dass sie nicht fliehen konnte, und das Ende ihrer Versuche sich zu wehren, waren nicht verborgen geblieben.I love you for every time you gave up on me
Der eiserne Griff um ihr Handgelenk ließ nach und hinterließ eine Rötung an der Stelle, an der seine Finger sie umklammert hatten; unwillkürlich sog sie Luft ein, als sie jene an der schmalen Hüfte spürte, und erhielt ein leises, erhabenes Lachen als Antwort. Ein Traum.
I love you for never delivering me from pain
„Siehst du das, Sarah?", hauchte er mit samtweicher Stimme, „riechst und schmeckst du es? Es stirbt nach und nach, jetzt, wo alle Hoffnung verloren scheint ..." Seine Hand glitt bewusst langsam nach oben ... „wo der König doch offenbar tot ist." ... und zeichnete die Rundung ihrer Brust nach, sodass Sarah ein wütendes, leises Heulen entfuhr und dem König ein zufriedenes Lächeln entlockte; ein schrecklicher Albtraum ... „Es ist der süße Geruch der absoluten Vernichtung, der Verwesung ..."I love you for always driving me insane
... seine letzten Worte gingen in ein leises Knurren über, als seine Lippen ihr Ohr berührten und sich seine Hand endgültig ihre Brust umfasste, „... der sich über das Land legt; du dachtest, du hättest den Kreaturen hier einen Gefallen getan. Du dachtest, es hätte sich damit alles zum Guten gewendet-", Schmerz, als er für einen Augenblick in ihr Ohr biss, und seine Lippen dann über ihre Wange strichen, während die Kralle gefährlich nahe an der Halsschlagader ruhte, „dieses Leid, meine liebliche Sarah, ist allein dir zu verdanken." Ein kaum merklicher Kuss, bevor er ihren Kopf ruckartig zu sich drehte. Schwarzer, funkelnder Obsidian.
„Ich werde dich vernichten, obgleich ... es eine Verschwendung ist. Doch zuvor wirst du all das Leid und den Schmerz erfahren, den du dem Untergrund zugefügt hast, meine Schöne."I'll bleed you dry now
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Dark Salvation
FantasíaViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...