Schwarze Mauern

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 Vom hoch gelegenen Waldesrand hatte das Labyrinth kleiner und einfacher ausgesehen. Sarah musste sich jedoch eingestehen, dass sie sich – erneut – davon hatte täuschen lassen. Nun, wo sie vor der dunklen Backsteinmauer stand und den Kopf in den Nacken legen musste, um deren Ende zu sehen, wurde sie eines Besseren belehrt und schluckte. Leise Zweifel klopften in ihrem Kopf und verursachten allmählich unangenehme Schmerzen.

Wenn sie nach links und rechts blickte, sah sie nichts als roten Sand und die Mauer, die endlos lang erschien. Sie war bereits in beide Richtungen gelaufen um zu überprüfen, ob sich der Eingang vielleicht in der Nähe befand. Ihre Suche verlief jedoch erfolglos, und sie kehrte zurück. Sie konnte sich daran erinnern, dass dieser Irrgarten aus kaltem Gestein sie schon damals an ihre Grenzen gebracht hatte, und sie beinahe aufgegeben hätte, wäre Hoggle – und die anderen – nicht gewesen.

Dennoch hatte sie es besonders dem Zwerg zu verdanken, dass sie sich ihren Weg bis in das Schloss bahnen konnte; immerhin kannte er das Labyrinth wie seine eigene Westentasche. Ihr Herz klopfte wild bei dem Gedanken, dass sie diesmal völlig auf sich gestellt war und ihr niemand zu Hilfe eilen konnte; wenn sie jetzt sofort aufgeben würde, wäre Hoggles Schicksal ebenso besiegelt. Zumindest hatte sie eine Chance, auch wenn sie in diesem Augenblick nicht wirklich reell erschien.
„Hoggle sagte damals, ich würde die falschen Fragen stellen", murmelte Sarah und fuhr sich durch das lange Haar, „also ... wo ist der Eingang? Wie finde ich ihn?"

Ein leises Lachen ertönte in unmittelbarer Nähe und ließ sie aufhorchen; ihr Blick wanderte in die Richtung, aus der es gekommen war, und entdeckte dabei das riesige, hölzerne Tor, durch das sie schon einmal gegangen war. Dann sah sie gerade noch ein Paar polierter Stiefel, bevor plötzlich eine Wolke roten Sandes aufgewirbelt wurde, und sie sich hustend abwandte. Als Sarah sich wieder umdrehte, fand sie den Koboldkönig vor sich. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte lässig an der Wand, einen Fuß daran stützend, und bedachte Sarah mit einem mitleidigen Lächeln.

„Wie ich sehe, bist du doch nicht so resistent gegen deine Erinnerungen, wie ich annahm", stellte er spöttisch fest und deutete mit einem Nicken auf das Tor, das sich neben ihm befand. „Nun kannst du es betreten, wenn du es wagst. Oder willst du aufgeben und eure Schicksale gleich besiegeln?"
Sarah ballte ihre Hände zu Fäusten, besann sich aber eines Besseren. Wenn er sah, wie ihre Fingerknöchel weiß hervor traten, hatte er sie genau da, wo er sie haben wollte.
„Und du scheinst noch immer nicht begriffen zu haben, dass ich keine Angst vor dir oder deinen Spielereien habe", entgegnete Sarah so ruhig wie nur möglich, obwohl sie innerlich kochte.

Im Wald hatte er ihr unerwartet geholfen, doch nun machte er sich wieder über sie lustig. Warum hatte er sie nicht einfach blutend sich selbst überlassen? „Ich werde Hoggle und ... ich werde sie retten."
Er lachte erneut, entblößte dabei seine spitzen Eckzähne. „Du erinnerst dich nicht, hab' ich recht? Das wirst du noch. Nun gut-" Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, „-dann geh, denn die Zeit läuft." Er zeigte auf eine wuchtige Standuhr, die aus dem Nichts erschienen war. Das große, schwere Tor öffnete sich ächzend, und Sarah steuerte darauf zu, ohne Jareth weiter zu beachten. Sie konnte ihn aus den Augenwinkeln immer noch sehen, wie er dort stand und sie beobachtete.

Wahrscheinlich wusste er genauso gut wie Sarah selbst, dass sie gelogen hatte. Sie fürchtete sich sehr wohl, wollte ihm diese Genugtuung aber nicht geben. Ihre Hände fühlten sich eiskalt an und ihr Mund war vollkommen trocken, als sie einen Fuß vor den anderen setzte, bis sie schließlich mitten im Torbogen innehielt und die Wand vor sich anstarrte, im Wissen, dass sie sich mit ihrem Rettungsplan in ein irrsinniges Unterfangen stürzte.
„Ich werde dir Furcht lehren", drang Jareths bedrohlich leise Stimme so unerwartet direkt an ihr Ohr, dass sie zusammenfuhr, sich aber nicht umwandte; sie wusste, dass er direkt hinter ihr stand.

Er verbreitete eine Kälte, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Stattdessen schloss sie die Augen, um Ruhe zu bewahren und Kräfte zu sammeln, die sie dringend brauchte. „Sobald sich dieses Tor schließt, wird die Angst dein einziger Begleiter sein."
„Dein Labyrinth habe ich schon einmal gelöst. Auch diesmal wird es ein Zuckerschlecken sein." Sie konnte sich die trotzige Antwort nicht verkneifen.
„Ach, wird es das?", raunte er und sein Atem strich ihre Wange, „damit habe ich gerechnet ... deshalb habe ich ein paar besonders süße Stückchen für dich vorbereitet. Fangen wir doch damit an." Sein Finger formte einen Kreis und der Zeiger der Uhr vollendete eine Umdrehung.

Sarah schnappte aufgebracht nach Luft, und wirbelte auf dem Absatz herum. „Das ist nicht-"
Sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu vollenden; stattdessen stieß ein leises, erschrockenes Keuchen aus. Der Schmerz, der sie durchzuckte, vernebelte für einen kurzen Augenblick ihre Sicht, sodass sie nicht gleich begriff, was geschehen war. Sie blinzelte, und fand Jareth immer noch vor sich; immer noch benommen, ertastete sie eine Hand, die sich eisern um ihren schmalen Hals gelegt hatte. Sie fühlte sich kühl und ledern an, und sie konnte den Boden unter ihren Füßen nicht mehr spüren, während ihr Kopf dröhnte.

Dann begriff sie: mit einer schnellen Bewegung hatte der König sie mit Wucht mit einer Hand gegen eine der harten Mauern gepresst, wo er sie mit Leichtigkeit festhielt und Sarah das Atmen erschwerte. Mit beiden Händen umklammerte sie seine, doch der Griff lockerte sich nicht; mit großen Augen starrte sie ihn an, und entsetzt erkannte sie, dass sich in den nunmehr schwarzen Augen blanke Lust an Grausamkeit und Wut spiegelten.
„Immer wieder sagst du das", zischte Jareth, „wo doch du diejenige bist, die keinen Sinn für Gerechtigkeit besitzt." Seine Finger schlossen sich noch enger um ihren Hals, sodass sich Sarahs Augen verdrehten und sie kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren.

Plötzlich lockerte sich der Griff jedoch, sodass sie nach Luft japsen konnte; dennoch ließ er sie immer noch nicht los, senkte sie jedoch spürbar langsam ab.
Beinahe liebkosend strich er mit dem Daumen über ihre Kehle und lächelte, doch die Wut war ihm deutlich anzusehen. „Ich könnte dich jetzt, hier an Ort und Stelle, töten", flüsterte der König, und genoss noch einmal Sarahs wachsende Furcht, „aber ... noch nicht. Noch nicht." Der Druck an ihrem Hals löste sich in der Sekunde eines Lidschlags, sodass Sarah unerwartet zu Boden fiel und den Sturz mit gestreckten Armen gerade noch abfing; sie ergriff einen groben Stein, der sich aus der Mauer gelöst hatte, und rappelte sich rasch wieder auf, das Gestein drohend erhoben.

„Ich werde ...", begann sie, hielt jedoch inne, als sie erkannte, dass sie alleine war. Das Tor hatte sich mittlerweile geschlossen, und Sarah wusste, dass es sich auch nicht mehr öffnen würde. Mit einem dumpfen Klacken fiel der Stein zu Boden, als er aus ihrer Hand glitt; das alles konnte einfach nicht real sein. Ihr Leben war ohnehin schon schwer genug, und nun sollte sie tatsächlich wieder in der Welt sein, von der sie geglaubt hatte, dass sie nicht wirklich existierte; und doch hatte diese hier nichts mit der Welt zu tun, an die sie sich erinnerte. Dunkelheit und Verderben durchzogen den einst so lebendigen, farbenfrohen Untergrund, und der Tod schien allgegenwärtig zu sein.

Alles hatte sich verändert, und das nur ihretwegen; es war allein ihre Schuld, dass ihre Freunde in Gefahr waren und das Volk offenbar in Angst vor einem bösen König leben musste, der wohl selbst seine eigenen Untertanen opfern würde, nur um seinen Durst nach Rache stillen zu können.
Sarah glitt mit dem Rücken an der Wand langsam zu Boden, wo sie die Beine fest an ihren Körper zog. Sie konnte die Tränen der Verzweiflung und Schuld nicht länger zurückhalten, wischte sie jedoch mit dem sandigen Ärmel immer wieder fort. „Ich werde euch retten", versprach sie flüsternd, „und ich werde den Koboldkönig vernichten. Ein für alle mal."

Das Flüstern des Windes trug das leise, gutturale Lachen von den am Horizont gelegenen Ruinen des Schlosses noch weit über die schier unendlichen, schwarzen Mauern des Labyrinths hinaus ...  

Dark SalvationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt