Sarah stöhnte, als sie sich mühsam aufrappelte; dabei musste sie mit einer Hand Halt an dem Baum finden, an den sie bis jetzt wie gefesselt gelehnt hatte. Ihre Glieder fühlten sich starr an, sodass sie zuerst nur kleine Schritte wagte, bis sie wieder die völlige Kontrolle über ihren Körper hatte. Sie hatte den Koboldkönig immer unterschätzt, wie es schien; seine Macht war größer, als sie erwartet hatte. Hoggle sollte wohl recht damit behalten, dass er es auf Sarah abgesehen hatte, aber es war keine Wut, die sie in seinen Augen gesehen hatte.
Es war etwas viel Fataleres, doch wenn sie darüber nachdachte, erschauderte sie und vertrieb diese Gedanken. Dafür war nun keine Zeit. Vorsichtiger als zuvor kletterte sie nun über dicke Wurzeln, kleine Felsblöcke und schob immer wieder lange, dünne Äste aus ihrem Gesicht, bis sie endlich zum ersten Mal seit unzähligen Stunden Lichtstrahlen durch das Dickicht brechen sah; sie beschleunigte ihr Tempo, obwohl sich ihre Gelenke immer noch taub anfühlten, und trat dann an den Rand des Waldes, wo sie für einen kurzen Augenblick innehielt.
Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren und wusste nicht, wie lange sie tatsächlich in diesem Wald ausgeharrt hatte; sie wusste nur, dass ihr knapp dreizehn Stunden blieben, um ihre Freunde ... moment, bedeutete das, dass er auch Sir Didymus in seiner Gewalt hatte?
Nein, da war noch jemand gewesen - doch ihre Erinnerungen streikten, oder sie lag vollkommen falsch.
Sarah wusste, dass es nichts bringen würde, sich nun verrückt zu machen. Sie musste die Ruhe bewahren, um klar denken zu können; dazu schloss sie, zumindest für einen kurzen Augenblick, ihre Augen, und genoss die wärmenden Strahlen der orangenen Morgensonne auf ihrer Haut. Dann ließ sie ihren Blick über das Reich des Königs schweifen: über die Sanddünen, die am Waldesrand begannen, und die nichts Lebendiges beherbergten, sondern nur tote, aschgraue Bäumchen. Sie konnte von ihrem Standpunkt aus einen Teil des Labyrinths überblicken, das, wie sie schon einmal gefunden hatte, gar nicht so weit vom Schloss – oder das, was davon übrig geblieben war – entfernt lag.
Und dennoch ... je länger sie diesen Irrgarten betrachtete, desto weiter schien die Schlossruine in die Ferne zu rücken. Sie blinzelte, um dieses Gefühl los zu werden, doch es blieb. Sicherlich einer der Tricks des Königs, um mich zu verunsichern, dachte sie, und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wenn er dachte, das würde sie aufhalten, hatte er sich geirrt. Voller Eifer begann sie den steilen, sandigen Abstieg hinunter zu gleiten; ihre Hand glitt dabei durch den erwärmten, roten Sand, während sie zielstrebig auf die hohen Mauern des Labyrinths zusteuerte.
Er hielt die Augen geschlossen. Die Morgensonne strich mit ihrem rotorangenen Strahlen sanft über sein Gesicht, doch er genoss ihre Wärme nicht wie sonst; er lauschte in den Wind hinein, seinem zischenden Flüstern, und spürte, wie sich seine Muskeln voller Tatendrang anspannte. Es war viel zu lange her, seit er seine Flügel ausgebreitet und gen den Mond geflogen war; mit jeder Faser seines Körpers vermisste er jenes Gefühl der unendlichen Freiheit, das ihn durchströmte, wenn er durch die Lüfte glitt. Schon bald würde er den Rufen verzweifelter Eltern und Geschwistern wieder selbst folgen können, um ihnen ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen.
Mit herabhängenden Füßen ruhte er auf der höchsten verbliebenen Zinne seines Schlosses, und konnte, wenn er wollte, in schwindelerregender Höhe einen Teil des Untergrunds überblicken; wenn es einen Ort gab, an den er sich gerne zurückzog, so war es dieser. Hier war nichts und niemand, außer ihm, und keiner seiner Untertanen wäre auch nur auf die waghalsige Idee gekommen, ihm hier hinauf zu folgen. Seine Spione waren seine Augen und Ohren, seit er zurück gekehrt und sein Reich, sein Herzblut, in Schutt und Asche vorliegend gefunden hatte, und seine Macht noch zu schwach war, um dauerhaft persönlich darüber zu wachen.
Er spürte, wie sich das Labyrinth stetig veränderte und das Leben darin erneut zu pulsieren begann ...
Der Koboldkönig fühlte die Hand, die sich auf seine Schulter legte, und zog die dunklen Augenbrauen kurz zusammen, ehe er sich wieder dem Flüstern des Windes zu widmen versuchte.
„Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis Sarah das Labyrinth betritt", drang eine leise, melodische Stimme an sein Ohr, die er nur zu gut kannte. „Und wie ich sehe, hast du dich hinreißen lassen, ihr zu helfen. Ach, Jareth." Die Stimme schnalzte tadelnd mit der Zunge, aber der König wusste, dass sie sich über seine offenbare Schwäche lustig machte.
Er erwiderte nichts, ballte aber die Hand zur Faust und tat, als hätte er die Spitzzüngigkeit nicht bemerkt.
„Oh, oooh ... ich weiß, was du denkst. Dass sie eine faire Chance verdient hat, nicht wahr?" Die Hand, in einen schwarzen Handschuh gehüllt, umfasste seine Schulter nun fester, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Hat sie dir auch nur je den Hauch einer Chance gegeben, war sie dankbar für die Großzügigkeiten, die du ihr gewährt hast? Dass du stets so gehandelt hast, wie sie es sich von dir gewünscht hat? Erinnere dich." Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch der Koboldkönig hörte die Spannung und lodernde Wut darin, mit der sie stets zu ihm sprach.
Er wollte es nicht sehen, und doch sah er jenen Augenblick vor sich, als er dem Mädchen seine Träume und noch viel, viel mehr darbot; er sah zu, wie er in die ewige Tiefe stürzte, erinnerte sich, wie er in seiner Eulengestalt fluchtartig die Menschenwelt verließ – und wie die Dunkelheit über ihn kam, und alles auslöschte, was er geglaubt hatte, zu sein.
„Sie hat aufgehört, dich zu fürchten, weil du Gefallen an ihr gefunden hast. Was geschah dann, Koboldkönig? Ja, du weißt es ... sie hat ihr eigenes Spiel mit dir gespielt, dich überlistet. Du wurdest vom Jäger zum Gejagten, und sie hat dir alles genommen. Dachtest du wirklich, sie könnte dich lieben? Für dieses Mädchen warst du nie mehr als ein Mittel zum Zweck, und sie verabscheut dich heute noch genauso wie damals, siehst du es denn nicht in ihren Augen? Den Ekel und Hass?"
Die letzten Worte wurden gezielt langsam und genüsslich ausgesprochen, bevor die Stimme fortfuhr: „Sie hätte dich um ein Haar vernichtet, und hat dabei freudestrahlend zugesehen. Sie hat deinen Sturz mit ihren Freunden gefeiert, und alles vergessen, als wäre es nie geschehen, und hat ihr Leben weitergeführt, während das Reich zerbrach, und du dich sterbend in einem Erdloch verkrochen hast. Du warst nichts als ein erbärmliches Elend, bis ich kam und aus dir machte, was du jetzt bist – und künftig sein wirst." Der König spürte den Atem dicht an seinem Ohr und wusste, dass Es wartete.
„Und ... was werde ich sein?", fragte Jareth schließlich. Die Stimme lachte; nun spürte er, dass auf beiden Schultern jeweils eine Hand ruhte. Er ließ sich seine Unruhe nicht anmerken.
„Du wirst der König sein, der über sein Reich und sein Volk herrscht; du wirst der Gebieter sein, der sie bestraft und großzügig entlohnt, und schon bald wird der Untergrund in neuem Glanz erstrahlen. Deine Armee wird für dich kämpfen, während deine Macht weiter steigen wird, und schon bald wird auch die Menschheit, die dich längst vergessen hat, deinen Namen wieder kennen und fürchten lernen. Ihre Welt könnte deine werden, doch nur, wenn du es zu lässt und an dem Mädchen ein Exempel deiner Macht statuierst, indem du es büßen lässt. Spürst du sie, die neu gewonnene Kraft? Lass mich dich leiten, Koboldkönig, lass mich dich leiten."
Der Druck auf seinen Schultern ließ nach, und die Stimme schwieg. Der Koboldkönig verharrte noch für einen kurzen Augenblick reglos, dann schlug er die Augen auf; das Licht der Sonne, sowie das vor ihm liegende Labyrinth spiegelten sich in der tiefschwarzen Farbe derselben, ehe er mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe stürzte.
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...