//ACHTUNG: Triggerwarnung! - Blut, Selbstverletzung //
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Wie oft war sie in all den Jahren von ihrer Familie und ihren Freunden gefragt worden, wie es ihr ging, ohne dass wirklich jemand die Wahrheit hatte wissen wollen? Wie lange war sie von ihrem Vater und ihrer pedantischen Stiefmutter in Therapie geschickt worden, weil sie (aber vor allen Dingen ihre grässliche Stiefmutter) der Meinung gewesen waren, dass das Mädchen eine Fantasie besaß, die nicht mehr ihrem Alter entsprach und langsam gegenüber der Realität Überhand nahm?
Sie hatte ihre Kindheit abrupt verlassen und vergessen müssen, und war in die Welt der Erwachsenen gestoßen worden, wo sich die Probleme häuften, solange, bis sie sich ein Ventil suchte; das erste Mal geschah es in der stickigen, dunklen Umkleide der Schauspielakademie, nachdem ihr Lehrer ihr vor all den anderen Schülern ihr gesagt hatte, dass sie zwar so schön wie ihre Mutter war, doch niemals in ihre Fußstapfen treten würde. Sie hatte sich rasch entschuldigt und die Bühne verlassen, war in die Umkleide gelaufen, wo sie in Tränen ausbrach, und ihre Mascara ihre Augen schwarz untermalte.
Sie hatte selbst nicht gewusst, wonach sie suchte, als sie ihre Tasche durchwühlte, bis sie die Nagelschere in der Hand hielt; ihr silberner Glanz hatte sich in den grünen Augen gespiegelt, und schon fast einladend gewirkt. Sarah hatte sehen können, wie das Blut langsam hervorquoll, und eine seltsame Befriedigung breitete sich in ihr aus. Tatsächlich verlief die Schauspielausbildung, die zwar stets ihr Traum gewesen war, nie so, wie Sarah es sich gewünscht hatte, und auch sonst blieb das Glück von ihr fern: einige kurz andauernde Beziehungen, die von keiner Besonderheit waren, aber immer in einem Desaster endeten.
Die Nächte, in denen sie allein in ihrem Bett gelegen und nicht schlafen hatte können, waren besonders schlimm gewesen. Die Uhr hatte lauter als sonst getickt, der Wasserhahn in der Küche stärker getropft als sonst und der Baum vorm Fenster hatte unheimliche, lange Schatten geworfen. Wie oft hatte sie dann geweint, weil dieses erdrückende Gefühl, diese furchtbare Einsamkeit, die sie empfand, besonders in solchen Augenblicken einholte? Ja, sie war einsam, trotz Familie und Freunden, trotz Beziehungen und der Tatsache, dass man in einem solchen Alter einfach nicht einsam sein konnte, als junge hübsche Frau, inmitten der Großstadt.
In jenen Nächten dachte sie über den Sinn ihres Lebens nach, und trieb sich damit immer weiter in die Verzweiflung, die sie dann – wie Treibsand – nicht mehr frei geben wollte, bis sie es nicht länger ertrug, sich zur Seite rollte und unter das Bett tastete, bis sie das unscheinbare, dunkle Täschchen fand. Sie zog es langsam hervor, öffnete es und betrachtete zögerlich, was darin lag. Routinierter als zu Beginn wählte sie eine Stelle, die für andere unbemerkt blieb und unangenehme Fragen vermied. Die Rasierklinge hinterließ an der Innenseite ihres Oberschenkels dünne Rinnsale ihres Blutes, und während sie von dem scharfen, erlösenden Schmerz erfasst wurde, blitzten immer wieder Bilder von merkwürdigen Wesen vor ihren geschlossenen Augen auf, und die Eule, die ihr auch manchmal in ihren Träumen erschien ...
Sarah rang nach Luft als wäre sie minutenlang unter Wasser gewesen und hätte nun die spiegelnde Oberfläche durchbrochen; ihr Herz raste, und sie spürte den sanften Druck der Hand an ihrem Hals, die nun wieder ihren Kopf stützend hielt. Für einen Augenblick war sie vollkommen desorientiert, bis sie den Koboldkönig hinter ihr erblickte, der sie mit demselben merkwürdigen Ausdruck musterte wie schon zuvor. „Soweit hätte es nie kommen müssen, Sarah. Ich hätte dir deine Träume erfüllen können." Seine Hand glitt von ihrem Hals empor zu ihrem Gesicht und fuhr darüber, ohne es zu berühren; Sarah schloss überrascht die Augen, als sie den Luftzug spürte. Sie öffnete sie erst wieder, als sie bemerkte, dass der Koboldkönig sie offenbar los gelassen hatte, doch erneut sollte ihr Spiegelbild ihre volle Aufmerksamkeit bekommen; Sarah atmete hörbar überrascht aus und trat näher an den Spiegel, wo sie sich selbst sah, aber fast nicht mehr wieder erkannte.
Mit großen Augen betrachtete sie ihr Antlitz, das deutlich jünger wirkte als zuvor. Ihre Haut wirkte glatt und rosig, das lange Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern und schimmerte wie dunkle Seide. Die dunklen Ringe der Erschöpfung unter ihren Augen waren fort, sodass ihre grünen Augen leuchteten; sie war immer noch schlank, doch wirkte nicht mehr ausgemergelt und erschöpft. Es war, als dürfte sie ihre Jugend noch einmal erleben, doch dieses Mal war sie nicht von ihren Problemen gezeichnet. Ein leises, dumpfes Geräusch, das direkt vor ihren Füßen zu ertönen schien, ließ sie zusammenzucken. Die schimmernde, glänzende Oberfläche hob sich deutlich von der Dunkelheit ab, sodass sie sich nur bücken musste und letztendlich, nach kurzem Zögern, die erstaunlich leichte Kristallkugel in ihrer Hand hielt. Sie war von Sarah unbemerkt an ihr vorbei gerollt und sanft am Rahmen des Spiegels abgeprallt. Irritiert betrachtete sie den Kristall, bevor sie sich umwandte, um zu sehen, woher sie gekommen war.
Ihre Pupillen weiteten sich, und unwillkürlich umklammerte sie die Kugel, sodass die Knöchel an ihren Fingern hervortraten. Jareth verharrte vor ihr, regungslos wie eine Statue, die ungleichen Augen auf sie gerichtet und von einer seltsamen Traurigkeit geprägt. „Du wünschst dir ein sorgenfreies Leben; eine Familie, die hinter dir steht und eine Karriere, die deine Mutter stolz gemacht hätte", begann er leise, und ließ damit einen kribbelnden Schauder über ihre Haut laufen, „du wünschst dir deine jugendliche Unbeschwertheit und Schönheit zurück, und bereust, was du getan – oder nicht getan – hast. Nichts ist je so verlaufen, wie du es geplant hattest." Er senkte den Kopf, sodass sein Blick sie förmlich durchbohrte, und tat einen Schritt auf sie zu, sodass Sarah ebenso einen kleinen Schritt zurück machte.
Er streckte seine Hand langsam nach ihr aus, während seine Finger eine sanfte Bewegung ausführten, so als wollte er sie damit zu sich locken. Der Kristall in ihrer Hand löste sich und für einen kurzen Augenblick glaubte sie, dass die Kugel nun zu Boden fallen und zerschellen würde, doch sie irrte sich. Zielsicher rollte der schimmernde Kristall über ihre Fingerspitzen, und glitt dann schwerelos wie eine Seifenblase in der Luft, ehe er in Jareths dunklem Handschuh zu liegen kam, wo er ihn sanft zwischen Handfläche und –rücken zu balancieren begann. „All deine Träume, all deine unerfüllten Wünsche ... liegen in meiner Hand, zum Greifen nahe. Es liegt allein bei dir, Sarah."
Die silbrig glänzende Oberfläche des Kristalls spiegelte sich in den traurigen Augen der jungen Frau, die nicht länger leugnen konnte, dass ihr Herz vor Sehnsucht bebte ...
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...