Das Grollen des Donners ließ die Mauern des Labyrinths erzittern, während der Regen unnachgiebig dagegen prasselte und bereits reißende kleine Bäche in den Kerben des Bodens bildete; Sarah wickelte sich noch fester in die Decke, die ihr der Wurm gegeben hatte, und beobachtete das Treiben aus der scheren Höhle. Zwischenzeitlich war es draußen dunkel geworden, sodass der Wurm ihr angeboten hatte, hier zu nächtigen, da er meinte, dass es besonders nachts nicht sicher im Labyrinth war.
Sarah hatte erst aufgrund ihres Zeitdrucks verneint, doch als sie erfuhr, dass das schrumpfende Mittel noch eine ganze Weile wirken würde, musste sie wohl oder übel zustimmen. Im Anbetracht des massiven Unwetters, das seit Stunden nieder ging und der Umstände, dass sie so groß wie der Wurm war, vielleicht nicht die schlechteste Idee. Sie war sogar angenehm überrascht von dem Komfort, den die Höhle bot – sie erstreckte sich über mehrere Kammern, und dank der Müllsammler hatte es sich der Wurm mit seiner Alten, wie er sie immer nannte, recht gemütlich gemacht. Er hatte Sarah ein Bett in einer der Kammern zugewiesen, das sich für sie als ein geformtes Stück Watte herausstellte; sie hatte dankend angenommen und nach dem Tee und einem Gespräch vorgegeben, müde zu sein und sich zurückzuziehen.
Der Wurm war daraufhin in einem der vielen Gänge verschwunden; Sarah hatte sich dann, als sie sicher war, dass Ruhe eingekehrt war, noch einmal raus geschlichen. An Schlaf war für sie, obgleich sie wirklich erschöpft war, noch nicht zu denken. Sie lehnte ihren Kopf stützend gegen das kalte Gestein, und zum ersten Mal seit Jahren ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Die Tränen bahnten sich still und heiß ihren Weg über ihre Wangen, bis sie sie hastig fortwischte. Wie hatte sie den Untergrund und ihre Freunde nur je vergessen können?
Wenn Sarah die Augen schloss, konnte sie die magische Welt vor sich sehen, wie sie einst gewesen war: bunt und schrill, ein scheinbar unbezwingbares Labyrinth, das so viele Geheimnisse barg. Die Kreaturen, eine seltsamer als die andere, und doch hatte sie unter ihnen Freunde gefunden. Die Kobolde, die sich gegen sie gestellt hatten, und doch nichts anderes gewesen waren als ängstliche kleine Wesen; das Ganze war gewissermaßen lächerlich erschienen und erinnerte sie heute an etwas, das ihrem kindlichen Geist entspringen hätte können. Sie erinnerte sich an jenen Augenblick, als die Schleiereule sich verwandelte und ihr der Koboldkönig zum ersten Mal, in einem Schwall funkelnden Glitters, begegnet war.
Wie oft hatte sie sich einen gutaussehenden, jungen Prinzen herbeigesehnt, der sie mit einem gewaltigen Auftritt überraschen, sie fortbringen und mit dem sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben würde? Doch er war etwas völlig Anderes gewesen. Einzelne, dünne Strähnen des wilden blonden Haars strichen über das markante, glatte Gesicht, das noch mehr von den dunklen Augenbrauen betont wurde; die verschiedenfärbigen Augen hatten sie mit einem seltsamen Funkeln bedacht, sodass ihr die Röte unbewusst auf die Wangen gekrochen war. Und trotzdem – irgendetwas an ihm hatte sie fasziniert. Mit geöffnetem Mund hatte sie ihren vermeintlichen Retter in der Not angestarrt. Er war vollkommen ruhig gewesen, hatte die verdutzte Sarah nur geduldig angelächelt.
Wieder wischte sie die Tränen fort. Der König hatte sie damals herablassend behandelt, aber er hatte ihr damals nie weh getan, nicht so wie diesmal, wo er sie am Hals gepackt und ihr langsam die Luft abgeschnürt hatte, während er sie hasserfüllt anstarrte; sie befühlte zaghaft die brennende Stelle, und konnte ein verzweifeltes Schluchzen nicht länger unterdrücken, als der Schock darüber sie mit einem Mal überrollte. Plötzlich bekam ihr ganzes, stichfestes Unterfangen Risse, und die Unsicherheit und Angst brachen durch. „Was habe ich nur getan?"
Der Kristall knackte leise unter dem Druck, den die Hand auf ihn ausübte. Die Tränen des Mädchens zogen helle Linien über ihre Wangen. Die dunklen Augenbrauen waren bekümmert zusammengezogen. Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, doch der Schmerz in ihrem Gesicht schrie förmlich. Sie sank die Wand hinab, zog die Beine dicht an den Körper und vergrub den Kopf in ihren Armen, mit denen sie ihre Knie umschlang. Die ungleichen Augen beobachteten gebannt das Geschehen; die Lippen wollten Worte finden, doch sie kamen nicht. Er verspürte einen merkwürdigen Schmerz in seiner Brust, sodass er unbewusst danach griff. Dann kam die Kälte, diese eisige Kälte ...
Der Wurm hatte ihr dasselbe erzählt wie Hoggle es getan hatte; dass bald nach ihrem Erscheinen und dem Verschwinden des exzentrischen Koboldkönigs absolutes Chaos ausgebrochen war. Ja, unter der Herrschaft Jareths hätten ebenso chaotische Zustände geherrscht, doch was danach kam, glich reiner Anarchie. Jeder tat und nahm, was er sich wollte, niemand arbeitete und es wurde so lange getrunken und gegessen, bis nichts mehr übrig war und die ersten Kobolde starben; wieder andere wurden von ihren ehemaligen Kumpanen wegen Kleinigkeiten erschlagen, während andere das Weite suchten.
Das Labyrinth begann zu verfallen, und die Wälder starben allmählich ohne der Magie des Königs, ebenso wie es die Ernten getan hatten. Immer weniger Leute kamen dann vorbei, und wenn sich doch mal jemand hier hin verirrte, war das eine erfreuliche Ausnahme.
Ihr blauer, neuer Freund hatte völlig regungslos erzählt. Er und seine Alte hätten auch daran gedacht, fortzugehen, doch wohin hätten sie gehen sollen? Hier war seit jeher ihr Zuhause, und in festem Mauerwerk standen die Chancen besser, nicht von irgendeinem Geier oder neuerdings von diesen metallenen Rabengestalten gefressen zu werden.
Sie hätten die Hoffnung noch nicht verloren, dass der König womöglich eines Tages zurückkehren würde, oder der Untergrund sich wieder erholte. Ein Blitz erhellte die Nacht für den Bruchteil einer Sekunde, tauchte das Gesicht der jungen Frau in ein gleißendes Licht. Sie wirkte müde; dunkle Schatten und die ersten, kleinen Fältchen zeichneten sich unter ihren Augen ab. Sarah schluchzte erneut. In all den Jahren hatte sie sich immer nur darüber beschwert, wie schlecht es ihr ergangen war, weil sie nicht dieselben Erfolge wie ihre Mutter feierte, und dabei kein einziges Mal daran gedacht, dass sie verantwortlich war für das Unglück anderer, die sie längst vergessen hatte.
Sie hatte eine wunderbare, vor Leben strotzende Welt an den Rande des Untergangs geführt, und nun war Jareth wütend. Sie ertappte sich dabei, dass sie – zum ersten Mal – die Reaktion des Koboldkönigs nachvollziehen konnte, doch rief sich zugleich in Erinnerung, dass sie nur ihren Halbbruder hatte retten wollen. Toby, der pubertierende Teenager, der sich an nichts mehr erinnerte, und seiner Schwester gegenüber völliges Desinteresse zeigte. Sie lächelte. Wer konnte es ihm verdenken? Sarah war nicht anders gewesen, und das war vermutlich der Grund dafür gewesen, weshalb sie allen – auch dem König gegenüber – trotzig gezeigt hatte.
Sie seufzte und zog die Decke fester um sich. Es nutzte nichts, nun über Vergangenes zu sinnieren; sie musste Hoggle retten und dem König erneut gegenübertreten. Sie musste sich ihrem Schicksal stellen; doch zuvor benötigte sie dringend etwas Ruhe, bevor sie früh morgens aufbrach. Leise tappte sie in ihre Kammer zurück, und schlief bald darauf vor Erschöpfung ein.
Die Schleiereule, die durch den schwarzen Nachthimmel schoss, blieb unbemerkt.
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...