Die junge Frau wischte sich den Schweiß, der sich auf ihrer Stirn gebildet hatte, mit dem Ärmel fort. Nachdem sie sich von jener Begegnung mit diesem abscheulichen König einigermaßen erholt und den ersten Schock überwunden hatte, war sie schon fast übermütig aufgesprungen und los gelaufen, auch wenn sie nicht wirklich wusste, welche Richtung sie wählen sollte. Sarah wusste nur eines: dass ihr die Zeit davon lief und sie etwas unternehmen musste, und es nichts nutzte, sich weinend in eine Ecke zu kauern. Diesmal würde ihr wohl niemand zu Hilfe kommen und sie machte sich selbst Mut, indem sie sich klarmachte, dass sie das Labyrinth schon einmal überwunden hatte.
„Mein Wille ist groß", murmelte sie zaghaft vor sich hin, während sie über alte, moosüberwachsene Äste kletterte und sich wunderte, dass sie offenbar einen Hang hinab stieg. Es fiel ihr schwer, selbst daran zu glauben. Die Korridore waren endlos lang und breit, und sie hatte bisher keinen Durchgang ausmachen können.
„Allo!"
Sarah zuckte überrascht zusammen, sah sich irritiert um. Irgendwoher kannte sie doch ...
„Hier unten. Allo!"
Es brauchte einen Augenblick, bis sie den auffällig blauen Wurm mit dem winzigen roten Schal entdeckte; er saß auf einem dünnen Ästchen, das aus dem Backstein ragte. Dahinter war ein kleines Loch zu erkennen.
„Hast du ‚Hallo' zu mir gesagt?", fragte sie mit gerunzelter Stirn und wurde dieses seltsame Gefühl einfach nicht los, das sie umklammerte.
„Nein, ich sagte ‚Allo'", antwortete der Wurm freundlich, und legte fragend den Kopf zur Seite, als Sarah plötzlich erfreut japste.
„Ich kenne dich!", stieß sie aufgeregt aus, noch bevor die kleine Kreatur etwas sagen konnte, „ich wusste, ich kenne dich. Und ich erinnere mich auch an diese Unterhaltung."
„Oh, das kann sein. Ich kenne hier den ein- oder anderen, aber - naja, hier hat sich einiges verändert, und es kommt niemand mehr zum Plauschen her ... jetzt hab' ich nur noch meine Alte. Ahja, soll ich sie dir vorstellen?", meinte der Wurm und wirkte schon fast hoffnungsvoll.
„Du meinst, seit der König ...", begann Sarah, kam jedoch nicht mehr dazu, ihren Satz zu vollenden. Ein lautes, unheilvolles Krachen ertönte und ließ den Boden unter ihren Füßen heftig vibrieren, während das Gestein unter ihr knackend riss und so plötzlich abflachte, dass Sarah vornüber stürzte. Sie fing sich jedoch noch rechtzeitig mit den Armen ab und keuchte überrascht auf, als sie die plötzlich entstandene, enorme Steigung vor sich entdeckte. Es herrschte eine merkwürdige Stille und Sarah verspürte ein flaues Gefühl.
„Ja, seit der König fort ist", fuhr der Wurm unbeirrt fort, als wäre soeben nichts geschehen. Nun war sie mit ihm auf einer Augenhöhe. „Ist aber komisch, weil sich das Labyrinth wieder zu verändern beginnt. Das hat es eine ganze Weile nicht getan. Heißt wohl, dass er doch noch existiert. Naja, was soll's. Also, kommst du auf eine Tasse Tee rein?"
„Ich kann nicht", sagte Sarah, „tut mir Leid. Ich muss in das Schloss, am Rande der Koboldstadt. Kannst du mir den Weg sagen?"
„Jaaa-", antwortete der Wurm und ging in ein überraschtes Quieken über, als der Boden erneut, aber diesmal noch heftiger als zuvor, vibrierte. Sarah konnte gerade noch den kurzen, gleißenden Blitz in einiger Entfernung ausmachen, der in den Boden einschlug. Indessen hatte der Wurm Probleme, sich gerade noch an dem Ästchen festzuhalten; ein lautes Grollen folgte, und Sarah schluckte.
„Wenn ich klein genug wäre, würde ich dein Angebot zum Tee doch annehmen", meinte sie trocken, während sie die Augen zusammenkniff, um zu sehen, was da soeben passiert war.
„Oh, wie nett. Warte, ich müsste noch irgendwo etwas von dem Zeug übrig haben", murmelte der Wurm und verschwand in dem dunklen Loch; sodann hörte sie leises Scheppern und Klirren, als die kleine Kreatur - wonach auch immer sie suchen mochte - in ihrer Behausung wühlte. „Ist so ein Schrumpfungsmittel, hab' ich von dem Alten mit dem Hut. Damit konnten mich auch die Größeren hier besuchen."
„Oh, ich dachte immer, du wüsstest nicht-"
„Ich bin ein Wurm, kein Dummkopf. Natürlich weiß ich, dass du da sonst nicht rein passt. Hast ja nie danach gefragt."
„In Ordnung, tut mir Leid - aber jetzt beeil dich, okay? Schnell!" Während der Wurm fröhlich vor sich hin geplaudert hatte, hatte Sarah mit offenem Mund das Schauspiel beobachtet, das sich ihr geboten hatte und nun zu einem gewaltigen Problem wurde: dort, wo der helle Lichtkegel eingeschlagen hatte, hatte sich eine riesige, schimmernde Kugel gebildet, die die gesamte Breite eines Korridors einnahm und keinen Platz für etwas anderes übrig ließ.
Sie lag still auf dem höchsten Punkt der Steigung, aber ein winziger Anstoß würde genügen, um sie rasend schnell den Hang hinunter zu befördern und Sarah innerhalb einer Minute unter sich zu begraben. Weiter zu laufen würde nichts nutzen, schließlich hatte sie bisher noch keine einzige Abzweigung ausmachen können und die trügerisch schöne Kugel würde allemal schneller sein ...
„Ja, ich mach ja schon", drang es aus dem Loch, „wo hab ich's denn nur? Irgendwo muss es ja sein. Dummerweise ist meine Alte doch nicht zu Hause, die weiß sicher, wo ich's hab. Quasselt wahrscheinlich wieder mit der Müllsammlerin oder so. Ahh, da hab ich es. Warte, ich muss noch ...-"
Eine starke Windbö erfasste Sarah, wehte ihr langes dunkles Haar ins Gesicht, sodass sie es erst hastig fortstreichen musste, um wieder etwas zu sehen. „Nein, bitte ...", flehte sie in Richtung der riesigen Kugel, „komm schon, bitte ... verdammt." Sie sah, wie die Kugel fast schon provokant langsam ruckte, auf den Abhang hin glitt und für einen Lidschlag dort verharrte, sodass Sarah schon Hoffnung hegte - und kam schließlich doch ins Rollen.
„Beeil dich!", schrie sie, und spürte, wie ihre Sachen innerhalb von Sekunden nass geschwitzt waren; das Ungetüm kam unglaublich schnell auf sie zu. Zu allem Übel wandelte sich ihre Oberfläche, und schmutzig graues Metall mit langen, spitzen Nieten erschien. Da wollte auf jemand auf jeden Fall auf Nummer Sicher gehen, so viel stand fest.
„Da!" Der Wurm war wiedererschienen, hatte etwas grüngelbliches, Pelziges auf das Ästchen gelegt; Sarah dachte nicht lange darüber nach und schob sich dieses Etwas hastig in den Mund, während sie die Augen fest zusammen kniff. Sie musste dem Wurm und seinem ekelhaft schmeckenden Mittel vertrauen, etwas anderes blieb ihr nicht übrig.
Dann hatte sie das Gefühl, aus großer Höhe zu fallen; es erinnerte sie an jene Träume, in denen man in die Tiefe stürzte, und kurz vor dem Aufprall plötzlich erwachte. Ähnlich erging es ihr in diesem Augenblick. Als sie die Augen öffnete, erblickte sie die monströse Kugel; Sarah hechtete, so schnell es ihre Beine zu ließen, zur Seite, wusste jedoch, dass sie den Mauerrand, der plötzlich so weit entfernt zu liegen schien, niemals erreichen würde. Sie blickte schon ihrem Schicksal ins Auge, als sie auch noch stolperte, und zusehen würde müssen, wie sie überrollt wurde ...
Und die Kugel kam. Der Boden unter ihr erbebte, dass sie glaubte, er würde jeden Augenblick nachgeben; eine der spitzen, tödlichen Nieten grub sich knapp über ihrem Kopf in den Boden und sie sah mit schreckensgeweiteten Augen zu, wie das Ungetüm sie nur um wenige Millimeter verfehlte und vorüber rollte, und das Labyrinth wieder in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auf die Ellenbögen gestützt, blickte sie der Kugel nach, bis sie außer Sichtweite war; dann rappelte sie sich hustend auf und begriff, dass nun nicht nur die Kugel gewaltig war. Alles erschien viel größer, und Distanzen weiter; das Fleckchen Moos an der Wand zur ihrer Linken war nun nicht mehr auf ihrer Schulterhöhe, sondern schien unerreichbar weit oben zu liegen.
Das Ästchen, auf dem der Wurm saß, lag auch in beträchtlicher Höhe, und plötzlich wirkte der Wurm gar nicht mehr so klein auf sie.
„Komm rauf. Du musst ein bisschen klettern", sagte er und nickte mit dem Kopf in Richtung seiner Höhle, in die er sogleich verschwand.
Sarah tat, wie ihr geheißen wurde, wischte sich aber zuvor noch einmal den kalten Angstschweiß von der Stirn. Was würde sie nun nur für ein Bad geben.
Sie atmete tief aus, bevor sie ihren Aufstieg begann; es war nicht einfach, da ihre Hände immer noch kalt und steif vor Angst waren, und gelegentlich brachen kleine Bröckchen von der Mauer unter ihren Füßen weg.
Sarah hangelte sich bis zu dem Ästchen, das nun mehr an einen Baumstamm erinnerte, und zog sich ächzend daran hoch, wo sie sich erst einmal erschöpft auf den Rücken rollte und ihre erschöpften, brennenden Glieder ausruhte und rasch atmete.
Der Himmel über ihr war wolkenverhangen und grau; sicher würde es bald zu regnen beginnen.
Erneut hörte sie das Klappern von Geschirr. „Das war ganz schön knapp, Mädchen", drang es leise tadelnd aus der Höhle, „möchtest du Zucker in deinem Tee?"
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Dark Salvation
FantasyViele Jahre waren vergangen, seither Sarah jene Worte gesprochen und damit ihren kleinen Bruder verwunschen hatte; sie überwand jede Gefahr, um ihn aus den Fängen des verführerischen Koboldkönigs, der sich in das Mädchen verliebt hatte, zu befreien...