Ruinen der Erinnerung

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  „Oh, ist die alt geworden. Ich glaube, sie ist tot."
„Mit Verlaub, mein Guter, das denke ich nicht. Mylady, könnt Ihr mich hören? Hallo, hallo?"
„Ich sag' doch, dass sie das nicht überstanden hat. Jedenfalls wäre es ihr zu wünschen." Wütendes Schnauben.
„Ach, seid nicht so. Sie wird ihre Gründe gehabt haben."
„Schwachsinn!"
„Schhh, seht nur, sie bewegt sich."
„Ohh, nein ..."
Ein leises Stöhnen. Sarah blinzelte benommen; sie fühlte sich, als wäre sie mit einem Stock ausgenockt worden. Ihr Kopf dröhnte und schmerzte heftig, und dass sie Fünkchen vor den Augen tanzen sah, machte das Ganze nicht besser.
„Wo ... wo bin ich?", murmelte sie, sah nur zwei schemenhafte Gestalten, die sich über sie beugten. Hatte sie das Haus verlassen? Irrte sie in der Nacht umher, unter dem Einfluss ihrer Tabletten, und jemand hatte sie irgendwo gefunden? Das war alles nur ein böser Traum, aus dem sie jeden Augenblick erwachte.
„Mylady! Geht es Euch gut?" Täuschte sie sich, oder sprach da gerade ein Fuchs mit Dreizack auf dem Kopf mit ihr?
Sie rappelte sich auf, rieb sich den Kopf; langsam konnte sie wieder klarer sehen. Roter Sand ...? „Mylady?"

Sarah wandte sich zu der piepsigen Stimme um und erschrak, als sie feststellte, dass da tatsächlich ein Fuchs war, der mit ihr sprach. „Ja, es geht mir gut. Sehr witzig, Toby. Zum Schreien komisch, aber jetzt zieh das Kostüm aus und lass das", antwortete Sarah, während sie sich umsah. Überall waren Dünen aus Sand, dessen Farbe sie an Blut erinnerte, und ein paar wenige tote Bäume. War dieser pubertierende Teenie etwa abgehauen, um seiner Schwester einen Streich zu spielen?
„Toby?", wiederholte der Fuchs. „Nein, Mylady. Ich bin es, Euer getreuer Sir Didymus. Toby war, soweit ich weiß, Euer ehrenhafter Bruder-"
Erneutes Schnauben. „Lass es gut sein. Sie erinnert sich nicht an dich, an niemanden von uns." Ein kleiner Mann mit Glupschaugen und buschigen, grauen Augenbrauen kam hinter einem Felsen vorgewatschelt, knöpfte dabei seine Hose zu.

Er warf Sarah einen kurzen, verächtlichen Blick zu, schnaubte dann wieder. „Sie hat alles vergessen, und das ist auch gut so." Er kickte ein Steinchen weg. „Warum bist du überhaupt wieder hier?", schnauzte er Sarah an, „war die Nachricht nicht deutlich genug, Mädchen?"
Seine gemeine Art machte sie wütend. Sie rappelte sich auf, klopfte sich den Sand von der Kleidung und stemmte dann die Hände in die Hüften. „Jetzt mach mal halblang, ja? Was hab ich dir denn getan, dass du so grießgrä ..." Sie stutzte. „Grießgrämig." Rote Kappe. Klimpernder Schmuck am Handgelenk. „Hoggle?"
„Ja, so heiß' ich. Komm, Didymus, sie sagte, es geht ihr gut, also gehen wir. Sie kommt schon allein zurecht. Das hat sie ja bewiesen, dass sie das kann", entgegnete der Zwerg mit verschränkten Armen und wandte sich zum Gehen um.

„Sir Didymus, wenn ich bitten darf. Aber wir können-"
Sir ... ein ehrenhafter Ritter, stets dazu bereit, für eine holde Maid in den Kampf zu ziehen. Sie kannte den Fuchs ebenso.
„Und wie wir können, Sir." Die rote Kappe marschierte los, ohne Sarah noch einmal anzusehen. Der Fuchs seufzte, lief dem Zwerg hinterher, und ließ eine völlig verwirrte Sarah dort stehen.
„Warte", rief sie, „so wartet doch. Bitte lasst mich nicht allein hier zurück. Bitte!" Der Zwerg hielt tatsächlich inne; er ballte seine Fäuste, machte auf dem Absatz kehrt und kam energischen Schrittes auf Sarah zu. So ernst er es meinte, es hatte dennoch etwas komisches an sich, sodass sie sich ein Lächeln verkneifen musste. Hoggle. Ihr grießgrämiger, plastikliebender kleiner Freund und Sir Didymus; offenbar hatte ihre Fantasie nun doch wieder eingeholt.

„Wir sollen dich nicht zurücklassen?", wiederholte er, „warum denn nicht? Dasselbe hast du mit uns gemacht. Mit mir. Hast uns im Stich gelassen, Sarah, hast uns einfach so vergessen, als würd's uns nicht geben. Nenn' mir einen Grund, warum wir dich jetzt mitnehmen sollten." Er stieß ihr mit dem Zeigefinger mehrmals unsanft in die Rippen, sodass es wehtat. Es tat weh ... und der Wind fuhr durch ihr Haar; Sand rieb zwischen ihren Fingern. Alles fühlte sich so echt an.
„Ich dachte bis zu diesem Augenblick, ich träume", antwortete Sarah teilnahmslos und betrachtete ihre Hand, „ich dachte, ich hätte mir alles nur eingebildet, was passiert ist."

Hoggle zog säuerlich die Augenbrauen zusammen. „Ja, ich sag' dir, was eingebildet war: unsere ... 'Freundschaft'." Das letzte Wort betonte er sarkastisch. „Wir sind so echt wie du, falls du's noch immer nicht begriffen hast. Komm, Sir sonstwas, gehen wir." Er wandte sich um und ging; der Fuchs blieb jedoch stehen, kam auf sie zu und zog seinen Degen; er bot ihn ihr dar. „Sir Didymus. Ich erinnere mich." Sarah schluckte die Tränen hinunter und lächelte; sie kraulte sein Ohr. „Es ist schön, dich wiederzusehen. Wie konnte ich euch nur vergessen."
Er verneigte sich. „Mylady", sagte er, „ich wusste, dass ihr eines Tages zurückkommen würdet. Was immer Eure Gründe gewesen sein mochten, sie waren sicherlich triftig. Ich biete Euch erneut meine Dienste, Mylady, und mein Leben zu Eurem Schutze." Ja, sie erinnerte sich; doch wo war sein Reittier?

„Ich nehme sie gerne in Anspruch", sagte Sarah, „wo ist Ambrosius?"
Der Fuchs wirkte auf einmal ganz betroffen; er nahm den Dreispitz vom Kopf, und hielt ihn sich vor die Brust. „Mein tapferer Gefährte ist nicht mehr. So wie viele andere ...-"
„Wollt ihr da noch ewig rumstehen?" Hoggle war zurück, bedeutete ihnen mit wildem Armgefuchtel, sich zu bewegen. „Schreit nicht so rum. Die Felsen haben Augen und Ohren, verschwinden wir schnellstens. Ich weiß einen Platz, wo wir sicher ... also, sicherer als sonst wo sind." Er warf Sarah, die ihm ein entschuldigendes Lächeln schenkte, erneut einen bösen Blick zu, bevor er los ging. Es tat weh, dass er so wütend auf sie war, doch Sarah konnte ihn verstehen - immerhin hatte sie nicht nur ihre Erinnerungen verdrängt, sondern auch ihre Freunde.

Sie folgte den beiden; kletterte Dünen hoch, rutschte ein paar Mal dabei aus, bis sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte und einen Hang nach oben stiegen, wo Hoggle mit verschränkten Händen auf sie wartete. Sarah legte die Hände auf die Oberschenkel, atmete tief durch. „Wir sind nicht hier, um uns auszuruhen", sagte er, „falls du wissen möchtest, was passiert ist, nachdem der Koboldkönig gestürzt wurde - dann sieh hin, Sarah." Er wartete nicht, sondern lief weiter, bis er meckernd in dem beginnenden, dunklen Wald verschwand. Sir Didymus blieb an ihrer Seite, hielt sich jedoch im Hintergrund, während Sarah mit offenem Mund das überblickte, was einmal der Untergrund gewesen war; der Wind blies durch ihr langes Haar, doch sie fühlte es nicht.
In der Ferne lag das Schloss, das einer Ruine glich; gleich an mehreren Stellen in der Koboldstadt stiegen dunkle Rauchschwaden auf, als hätte dort eben erst ein Brand gewütet.

Das Labyrinth war zum Teil in sich zusammengestürzt, und sie erblickte in seiner Nähe eine Fläche, auf der mehrere ungleichmäßig große Holzkreuze aufgestellt worden waren; eine Krähe ließ sich mit einem Schrei auf einem davon nieder. Sarah schlug die Hand vor den Mund.
„Kommt, Mylady. Lasst uns gehen." Sir Didymus zupfte an ihrem Ärmel. Er sprach freundlich, aber mit Nachdruck, sodass Sarah Hoggle in das Gestrüpp folgte. Der Fuchs warf noch einen beunruhigten Blick auf das schwarze Tier, das sie zu beobachten schien.

Dieser Wald löste in Sarah größtes Unbehagen aus, je weiter sie in ihn drangen. Irgendwann waren die Baumkronen so dicht, dass sie den Himmel nicht mehr sehen konnte und kaum noch Tageslicht hindurch kam. Moos und seltsam leuchtende Pilze bedeckten den Boden, sowie die zahlreichen toten Bäume, die ihre knorrigen dünnen Äste nach ihnen zu strecken schienen. Immer wieder hörte sie Geraschel und winzige Ästchen knacken, sodass Sarah sich beunruhigt umschaute, jedoch nichts sehen konnte.
Sie konnte noch immer nicht glauben, was gerade um sie geschah. All die Jahre, in denen sie sich selbst eingeredet hatte, dass ihre kindliche Fantasie viel zu oft Überhand genommen hatte. Das hier konnte einfach kein Traum sein.

Hoggle führte sie zu einer Höhle mit steinernem Vorsprung; eine provisorische Holztür versperrte den Zutritt. In der Erde daneben entdeckte sie ein kleines Fenster, bei dem sich Holzscheite stapelten; Hoggle klemmte sich ein paar davon unter den Arm, bevor er die Tür aufstieß und in der Höhle verschwand. Sir Didymus ließ Sarah den Vortritt.
Sie musste sich ducken, um eintreten zu können und auch sonst eine gekrümmte Haltung einnehmen, da sie nicht aufrecht stehen konnte. Dennoch war es wohnlicher, als sie es sich erwartet hatte: in der kleinen Feuerstelle samt Kamin knisterte es leise und verteilte eine angenehme Wärme in dem kleinen Raum. Ein Tischchen samt Sessel waren vor der Kochstelle platziert worden, sowie eine klapprige alte Kommode. In einem Eck stand ein kleines Bett. Sie zuckte zusammen, als Sir Didymus die Tür hinter ihnen sorgsam verriegelte, indem er einen schweren eisernen Balken davor legte und den Stofffetzen, der als Vorang diente, zu zog. Sie musste Acht geben, sich mit den Haaren nicht in den getrockneten Kräutern zu verfangen, die von der Decke hingen; sie erkannte den Duft beruhigenden Lavendels.

Hoggle warf die Scheite ins Feuer. Dann ging er zu der Kommode, öffnete eine quietschende Lade und holte etwas hervor, wovon er zuerst Sarah, die sich inzwischen vor dem Feuer niedergelassen hatte, und dann Sir Didymus etwas zuwarf. Hartes Brot. Er fischte noch etwas daraus hervor und gesellte sich dann damit zu ihnen; ein Stück Käse, der jedoch auch schon älter aussah, doch die beiden machten sich darüber her, als wäre es ein Festmahl. Sarah biss sich auf die Lippe. „Ich bin nicht hungrig. Danke, Hoggle." Für einen Augenblick wirkten ihre alten Freunde überrascht, doch dann nickte Hoggle nur und nahm Sarahs Stück Brot wieder an sich. Sie konnte sich nicht erinnern, dass hier jemand Hunger hatte leiden müssen.

„Die Ernte ist schlecht gewesen", erklärte Hoggle, „so wie sie es jedes Jahr war, seit der König gefallen ist. Wir müssen mit dem auskommen, was wir haben, und können froh sein, dass wir noch leben." Wieder warf er Sarah einen strafenden Blick zu. „Du wirkst überrascht, Sarah. Was hast du dir erwartet? Dass wir nach allem, was geschehen ist, in Glück und Wonne leben würden? Jareth war nie ein König, den man liebte, aber er ließ uns unsere Freiheiten und sorgte mit seiner Magie dafür, dass wir stets genug zu essen und trinken hatten, wenn die Ernten nicht gut waren. Seit er fort war, wurde nur alles schlechter - und dich hat es kein bisschen interessiert, was aus uns wurde."
Sarah hob flehentlich die Hände. „Es tut mir Leid, es tut mir wirklich Leid, okay? Aber, Hoggle, du musst auch mich verstehen! Ich wurde älter, und meine Familie hat es mir auch nicht gerade leicht gemacht. Ich hatte so viele Probleme, auf die ich mich konzentrieren musste, dass ich euch aus den Augen verloren habe. Das wird mir nicht noch einmal passieren, versprochen. Aber warum bin ich hier?"

Hoggle seufzte, kaute auf dem zähen Stück herum und rollte mit den Augen, ehe er sprach. „Na gut. Ich verzeihe dir zwar noch nicht ganz, denn dazu braucht es noch ein bisschen mehr, aber wir sind noch Freunde. Warum du hier bist? Naja, logischerweise, weil du den Koboldkönig gerufen hast, so wie schon einmal. Dein Bruder kann es nicht sein, den du verwunschen hast - welches Kind war es dann?
Und das, obwohl wir dich davor warnten; mein Finger tut jetzt noch weh von dem Nadelstich, aber es war die einzige Möglichkeit, Kontakt zu dir aufzunehmen."
„Das war dein Blut?", fragte Sarah, „deine Botschaft?"
Hoggle nickte, betrachtete den Finger, den er sich verletzen hatte müssen. „Es ist uns mittlerweile nahezu unmöglich, zur Menschenwelt Kontakt aufzunehmen. Die Opfer, die wir dafür bringen müssen, werden immer größer. Und ... naja, jetzt, wo er wieder hier ist, wird es wohl unmöglich sein. Wir wissen, dass er zurück sein muss. Das Labyrinth beginnt sich zu verändern, und neuerdings durchstreifen seltsame Kreaturen, wie wir sie noch nie gesehen haben, den Untergrund. Unheimliche Wesen, vor denen du dich unbedingt hüten solltest. Aber ihn selbst haben wir noch nicht zu Gesicht bekommen."

Sarah horchte auf. „Wesen mit Masken?" Das lederne Gesicht mit dem langen Schnabel und die Rose mit dem schwarzen Bändchen blitzten vor ihren Augen auf.
„Du hast sie schon gesehen?", fragte Hoggle. Er erhob sich, ging zu dem Fenster und linste durch einen Spalt des Vorhangs, ehe er zurückkehrte. Sarah nickte. „Eines davon war in meinem Zimmer. Ich sagte ihm, dass ich kein Kind hätte und die Worte leichtsinnig gesprochen habe. Ich denke, es hat mich hierher gebracht. Ich hatte schon zuvor das Gefühl, dass mich jemand beobachtet." Sie erwähnte das Geschenk nicht. Hoggle sah schon beunruhigt genug aus. „Das heißt, dass er dir auch noch nicht erschienen ist. Er weiß, dass du hier bist, und er ist sicherlich sehr wütend." Sarah schüttelte den Kopf. Sie versuchte angestrengt, sich an den Koboldkönig, der ihr erschienen war, zu erinnern, doch da waren nur Bruchstücke. Ihre perfekte Vorstellung drängte sich immer wieder in ihr Gedächtnis und vertrieb die Tatsachen.

Noch bevor die Nacht eingekehrt war, hatte sich Hoggle noch einmal vergewissert, dass die Tür verschlossen blieb. Zur Sicherheit hatte er mit Sarah noch die alte Kommode davor geschoben, bevor sie sich schlafen legten.
Die junge Frau hatte es sich auf ein paar alten Decken so bequem wie möglich gemacht und starrte nun an die steinerne Decke, auf die das Feuer tanzende Schatten warf. Sir Didymus hatte darauf bestanden, Nachtwache an der Tür zu halten, weil seine Ehre es ihm gebieten würde, doch es dauerte nicht lange, bis der kleine Fuchs zusammengekauert vor der Tür schnarchte. „Das ist alles nicht gut, gar nicht gut, Sarah", flüsterte Hoggle, bevor er schließlich schwieg. „Morgen überlegen wir uns, wie wir dich nach Hause schaffen."
Hoffentlich würde Jareth - oder was auch immer da zurück gekehrt war - ihnen dann nicht in die Quere kommen.  

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