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----Montag, 27.04.2020----

Vier weitere Wochen warum rum und es fühlte sich an, als würden sie nie vergehen.

Helen lag unter ihrem Spielebogen, als ich Pauls Kleidung in Kartons verpackte. Es schmerzte, doch ich konnte nicht weinen. Es brachte Erinnerungen hervor, doch ich konnte sie nicht greifen. Ich war ein Schatten meiner selbst.
,,Brauchst du noch Hilfe süße ?" Streckte Jule ihren Kopf in den Türrahmen. Sie hatte angefangen sein Büro leer zu räumen, die Briefe, Bücher und all die Unterlagen seiner Arbeit zu schreddern oder zu verpacken. Der Geruch von erhitztem Plastik und verbranntem Papier stand im Obergeschoss, nachdem sie fünf Stunden unermüdlich alles durch die zerreißenden Zähne des Schredders schob, das seinen Namen trug.

,,Du kannst die Kisten dort schon ins Auto tragen. Ich werd sie spenden ans rote Kreuz."

,,Willst du nichts behalten ?"

Sofort schüttelte ich den Kopf.
Meine Mutter hatte immer einen Pullover meines Vaters über der Stuhllehne im Schlafzimmer hängen, nachdem er abgetaucht und nie wieder an die Oberfläche gekommen war. Immer wollte sie ihn weg legen, sich nicht länger in den Strudel der Vergangenheit und dem Zwiespalt der Gefühle ziehen lassen. Immer wieder sagte sie: Es hängt doch erst dort seit... und dann wurde ihr immer wieder bewusst, wie viele Jahre vergangen waren und griff zur Flasche. Irgendwann war sie soweit, dass sie die Vodka Flasche öffnete und den Deckel direkt weg warf.
Und vermutlich hing der Pullover auch heute noch dort, zwischen Bierdosen und Aschenbechern.

,,Bring es weg. Ich will das Zeug nicht haben. Es hat nie jemandem gehört. Das hat alles nie etwas bedeutet."
Sagte ich mit fester Stimme und verlor meinen Blick im Spiegelbild.

,,Du bedeutest mir die Welt, den Himmel und die Sterne Lena. Ich will mit dir alt werden, durch Europa segeln, bis ans Ende meiner Tage. Als wir uns kennen lernen, lag sofort etwas besonderes zwischen uns. Deine liebevolle Art und dein Humor haben mich sofort in den Bann gezogen und nichts hat sich zuvor so richtig angefühlt. Dein Lachen, deine Intelligenz, dein Ehrgeiz hat mich schlichtweg umgehauen. Mir war sofort klar, Du bist der Mensch, mit dem ich eine gemeinsame Zukunft gestalten und den Rest meines Lebens verbringen möchte."

Tränen standen in seinen Augen, als er meine Hand hielt. Ich spürte, wie der Schleier auf meinem Kopf verrutschte, als ich den Kopf senkte, gleichzeitig lachte und weinte. Die wenigen Gäste applaudierten. Keine Familie, nein. Es waren ein paar seiner Arbeitskollegen, die im laufe der Jahre zu Freunden wurden und meine Freundinnen, die mir immer treu zur Seite standen. Ich brauchte keine Familie, die sonst auch nicht für mich da war. Ich bastelte mir meine eigene und das hier sollte nur der Anfang unserer Liebesgeschichte sein.

Die Glocke am Spielbogen bimmelte laut, als Helen mit dem Fuß dagegen trat. Sie zappelte, schlängelte ihren Oberkörper wie eine Raupe, dann kullerte sie auf den Bauch.
,,Jule!" Schrie ich begeistert auf.
,,Sie hat sich gedreht!"
Ich sprang auf, kniete mich zu ihr und schaute sie an. Man sah ihr an, wie verwirrt sie über meinen Aufstand war. Aus großen blauen Augen schaute sie mich an, der Mund war etwas geöffnet und Speichelfäden zogen sich bis zur Decke.
,,Du bist mein großes Mädchen! Mama ist so stolz auf dich Helli." Strahlte ich sie an. Ein laut entwich ihr und sie begann zu lachen und zu quietschen, doch die Freude war schnell dahin, als sie bemerkte, dass der Weg zurück auf den Rücken ihr Mühe kosten würde. Ihre kurzen Beine strampelten in der Luft, verzerrtes glugsen drang aus ihrer zarten Kehle und daraus wurde schnell verzweifeltes Gebrüll. Ich lachte kurz auf und nahm sie auf den Arm.
,,Alles gut mein Schatz, das lernst du auch ganz schnell." Meine Lippen legten sich auf ihre weichen, speckigen Wangen. Beruhigend wippte ich sie auf dem Arm.
,,Oh, das ist so süß." Schwärmte Jule und legte den Kopf zur Seite. Der glockenhelle Klingelton des Haustelefons ließ uns beide aufschrecken.
Die Welle der Euphorie brach am Ufer der Realität. Wer auch immer am anderen Ende war, ich hatte mit niemandem seit Pauls tot gesprochen. Angespannt schaute Jule mich an und nahm mir Helen vom Arm.
,,Du musst da nicht dran gehen." Flüsterte sie mir noch zu, als ich wie ferngesteuert den Flur entlang lief.
Ich musste eben doch. Welche andere Option hatte ich ? Nie wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen ? Mich ebenfalls tot stellen ?
,,Schneider. Hallo ?"
Er räusperte sich, klang dann überrascht.
,,Oh, hey. Ich wollte gerade auflegen. Glück gehabt."
Ich schluckte als seine vertraute Stimme durch den Hörer drang.
,,Hey Sascha."
,,Ist Paul zuhause ?"
,,Nein.. Sascha er.."
,,Achso ? Wo ist er denn ? Chef ist schon ausgeflippt, er geht nicht ans Handy. Ich hab gesagt ich klär das. Geht es ihm.."
,,Sascha!" Mahnte ich ins Telefon und spürte die Tränen die sich haltlos über meine Wangen bahnten.
,,Darf ich jetzt auch mal ?"
,,Ja natürlich. Entschuldige. Es ist nur, er hat sich echt viel erlaubt in letzter Zeit.. und dann einfach eine ganze Woche nicht aufzutauchen.. puh. Ich kann ihm nicht ständig den Arsch retten. Der nächste Brief ist keine Abmahnung mehr und.."
,,Er ist gestorben Sascha." Nuschelte ich ihm dazwischen.
,,Wie bitte ?"

,,Er ist gestorben! Tot, nicht mehr da. Unter der Erde. Was willst du von mir !? Warum überhaupt viel erlaubt !? Er war mehr arbeiten als bei seiner Familie!" Rastete ich aus und schlug mit der Hand auf die Komode. Die Situation und die dazugehörigen Emotionen überforderten mich sofort und ich reagierte unangemessen. Der Kerzenständer kam ins wanken, fiel dann krachend zu Boden.
Jule griff schützend Helens Kopf und drehte ihn an ihre Brust, während sie mir mahnend den Kopf entgehen schüttelte.
,,Lena.. ich.. wann ? Ich weiß gar nicht was ich sagen soll, ist das wahr ? Er war doch noch in Paris und hat berichtet wie gut es lief, dann hat ihn diese miese Lungenentzündung erwischt.. wars das ?"
,,Würdest du einfach mal Luft holen und mich mal zu Wort kommen lassen ?"
Betretenes Schweigen lag zwischen uns. Sascha wusste nie wann er aufhören sollte zu reden und einfach mal zuhören sollte.
,,Es war ein Autounfall. Er ist mit einem Baum kollidiert und war sofort tot."
,,Oh man!" Er holte Luft, seine Stimme zitterte.
,,Das ist gerade ein bisschen viel.. ich weiß nicht..Er war so wenig auf der Arbeit in letzter Zeit..hat sich ständig krank gemeldet..nicht dass er.."
,,Warte.. warte Sascha. Wenig auf der Arbeit ?"

Und dann erzählte Sascha mir Dinge, von denen ich wünschte nie erfahren zu haben. Plötzlich ergab alles so viel Sinn und doch nicht. Wir sprachen über eine Stunden, wobei er mir eher fragen beantwortete, als dass er eine Antwort auf seine bekam. Von Pauls zweitem Leben und seinem vermissen erwähnte ich nichts, auch wenn Sascha sich denken konnte, dass hinter seinen Erzählungen und meinen Antworten eine großes Geheimnis von Paul stecken musste.

,,Er war zwei Wochen in Paris. Vom 3 Februar bis zum 14." Ich nickte, diese Info hatte ich auch.
,,Das weiß ich. Das hat er mir erzählt.. und er war so genervt, dass er schon wieder weg musste und ausgerechnet am Valentinstag nicht da sein konnte."
,,Hm.. am 17 Februar hat er sich vier Wochen im Büro krank gemeldet. Er hätte eine starke Lungenentzündung und eine heftige Erkältung. Chef ist ausgerastet, er war in letzter Zeit sehr unzuverlässig, hat weniger Stunden beantragt wegen dir und Helen, war dann aber immer öfter krank.."

Ich schüttelte den Kopf.
Weniger Stunden, krank.. das konnte nicht sein. Er war sogar fast noch mehr unterwegs als sonst. Wollte finanzielle Absicherung schaffen, uns ein wunderbares Leben ermöglichen.

,,Lena.."
Ich erstarrte, als er meinen Namen aussprach. In seiner Stimme lag etwas gebrochenes, Unverständnis, Ungläubigkeit.
,,Wann hatte er seine letzte Geschäftsreise ?"
,,Irgendwann Anfang Januar für zwei Wochen. Er war ständig unterwegs."
,,Oh man." Er atmete schwer, seufzte.
,,Lena.. Er war höchstens zwei, manchmal drei Mal im Jahr weg. Er war kaum noch im Büro.. Er hatte nur noch 19,5 Stunden in der Woche. Was ist bei euch los gewesen ?"

Ein Gefühl der Lähmung befiel mich. Ich stützte mich am Holz der Komode, damit ich nicht den Halt verlor, als Schwindel mich überkam.
Jane. Wer sonst. Wie konnte ich so blind sein. Die Antwort lag direkt vor meinen Füßen.

,,Ich leg jetzt auf."
,,Nein.. wart-"

♥︎

Zwei Leben (Aktuell PAUSIERT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt