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Die Schmerzmittel waren nicht mehr die selben, wie gestern. Diese nahmen mir zwar den Schmerz, sie gaben mir aber nicht dieses gute Gefühl der Schwerelosigkeit.

Gleich nachdem ich heute morgen von der Isolationsstation auf die Neurologie verlegt wurde, stellte sich mir Herr Hittinger vor und er betonte die Worte Diplom Psychologe, als sei er dadurch ein Heiliger. Er war ein älterer Herr, lockiges, schwarzes Haar und eine knollige Statur.

Das erste Gespräch mit ihm fühlte sich merkwürdig an.. Zuerst hat er mich die üblichen Dinge gefragt, die man eben so fragt, um sich überhaupt erst mal miteinander bekannt zu machen und dann gings schon direkt um Helen. Dass es schwer sein muss, allein zu sein, dass ich überfordert wirke.. und das mich das belasten würde.

Das war doch gar nicht der Anlass fürs Gespräch.. es ging doch nur um meine Trauer.. um den Verlust von Paul und wie ich besser damit umgehen konnte. Ich wünschte mir jemanden, der Außenstehend war, jemand, der die Situation und meine Gefühle völlig nüchtern betrachten konnte und mir zuhören konnte ohne mich zu verurteilen. Das Gespräch mit Frau Dr. Kadjar war total anders.. sie interessierte sich für mich.. er hingegen, machte einfach nur seinen Job und entweder war er heute einfach nicht gut drauf oder er war ganz einfach ein abscheulicher Therapeut.
Dr. Warnschke, mein erster Trauerpsychologe, der mich kurz nach Pauls tot begleitet hatte, er war toll.. Leider standen mir die Therapieeinheiten bei ihm nur begrenzt zur Verfügung.

Ich war enttäuscht. Ich hatte mir so viel mehr erhofft. Ein gutes Gefühl, Vorfreude auf weitere Gespräche. Aber als er sich dann nach 45 Minuten, auf die Sekunde genau, verabschiedete, wusste ich schon, dass wir auch morgen früh nicht besser miteinander auskommen würden. Ich war kein Schritt weiter, ganz im Gegenteil, er zog mich noch mehr herunter und gab mir das Gefühl, den Pflichten meiner Mutterschaft nicht gerecht zu werden.. als hätte ich mich absichtlich mit Menningokokken infiziert, um ein paar Tage Ruhe zu haben.

Als ich so aus dem geöffneten Fenster schaute, stieg mir der Duft von dem grünen Tee in die Nase. Er dampfte noch, aber so wirklich was runter bekam ich nicht.. es fiel mir irgendwie schwer zu essen und zu trinken, da die vielen Medikamente mir Wort wörtlich den Magen verdrehten. Und da war das tiefe, erdrückende Gefühl des vermissens. Mein Mädchen fehlte mir so sehr.. noch nie war ich eine ganze Nacht von ihr getrennt und es würden noch zwei weitere folgen. So ganz war die aktuelle Situation noch immer nicht bei mir angekommen. Mein Hirn war umgeben von dichtem Nebel und ich konnte die letzten Tage überhaupt nicht ordnen oder sortieren. Es waren auferlegte Erinnerungen, nicht meine eigenen. Die waren nach wie vor wie ausgelöscht und wahrscheinlich würden diese auch nicht wieder auftauchen. Schwierig ein Loch zu stopfen, wenn man nichts da hatte, um es zu verschließen.

Ein zaghaftes Klopfen ließ mich zur Tür sehen.
Dann öffnete sie sich langsam und ein dunkler Schopf mit blonden Strähnen schob sich hindurch. Sofort hüpfte mein Herz auf, er lächelte und als er mich entdeckte, grinste er übers ganze Gesicht.

,,Guten Morgen!"

Strahlte er und sah mir direkt in die Seele. Seine Augen leuchteten mit dem einfallenden Sonnenlicht, dass sich durchs geöffnete Fenster ins Zimmer geschlichen hatte, beinahe magisch.
Ich musste mich zusammen reißen, damit das plötzlich aufkommende kribbeln in meinem Bauch mich nicht sofort aus dem Bett riss. Das waren ungewöhnliche Gefühle. Aber ich ließ sie zu, genoss sie für diesen Moment. Vermutlich war ich einfach nur froh, dass jemand da war. Dass ich nicht länger allein sein musste. Denn ich hätte mir auch nicht viel länger zu hören können.

Zwei Leben (Aktuell PAUSIERT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt