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Donnerstag 18.06.2020

Wie zu erwarten, reagierte Helen auf die Impfung etwas knartschig. Sie fieberte leicht und wollte kaum etwas essen. Immer wieder versuchte ich sie anzulegen und spürte kurz Erleichterung, als ich merkte, wie sie begann zu saugen. Allerdings währte das Glück nicht lang, stattdessen entschied sie sich dazu, meine Brust als Beißringersatz anzunehmen. Ein stechender Schmerz schoss durch mich hindurch und ich schrie verzehrt auf.

,,Autsch! Nein, nicht Helen. Das tut mir weh!"

Helen schrack ordentlich zusammen und verzog sofort das Gesicht zu einer Flappe.

,,Oh nein, Helli. Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber das hat mir wehgetan."

Streichelte ich ihren Kopf, doch Helen war kaum zu beruhigen. Sie hatte heute wohl einfach einen schlechten Tag. Ich nahm sie hoch und wippte sie sanft, stets mit der Angst im Bauch, dass sie wieder aufhören könnte zu atmen. Der Schock von gestern Mittag saß mir noch tief in den Knochen. Die ganze Nacht hatte ich kaum ein Auge zu bekommen und hatte mich schließlich dazu entschieden, Helen mit aufs Sofa zu nehmen.

Zumindest hatte der Regen nachgelassen. Die dunkeln Wolken umzingelten den Horizont allerdings weiterhin und versperrten jegliche Sicht auf Sommer. Die Temperaturen waren wieder gesunken und man hätte damit rechnen können, dass die blühenden Bäume in wenigen Tagen ihr Kleid wieder ablegen würden.
Ich verspürte schon beinahe den Appetit auf Lebkuchen und heiße Schokolade, wenn man außer Acht ließ, dass der Kalender auf Mitte Juni geblättert war.

Helens Kopf rutschte zur Seite. Schon wieder war sie eingeschlafen und etwas mitleidig betrachtete ich sie, dann legte ich sie neben mir aufs Sofa. Was ihr kleiner Körper durchmachen musste wegen dieser Impfung. Auf der anderen Seite hätte es immer so sein können.

Nicht dass es ihr schlecht ging, sondern der viele Schlaf. Vorsichtig hauchte ich ihr einen Kuss auf die Stirn und betrachtete sie. Es war nicht abzustreiten, dass sie eine Schneider war. Oder eine Kelly. Ihre hohen Wangenknochen und der Verlauf ihrer Nase. Die schmalen Lippen und ihre tiefblauen Augen, die sich unter ihren entspannten Augenlidern ausruhten. Später würde sie den Jungs den Kopf verdrehen.

,,Mein schönes Mädchen." Flüsterte ich und musste lächeln.

Heftig veratmete ich die Wehen, die mittlerweile Schlag auf Schlag kamen und mir kaum die Möglichkeit gaben, Luft zu holen.

Mein verklärter Blick fiel zur Tür, die sich nur langsam öffnete. Sein dunkler Schopf schob sich zwischen den Spalt und seine Augen suchten unsicher den Raum ab, bis er mich am Bettrand hocken sah.

,,Es ist nicht zu spät!"

Freute Paul sich zuerst sichtlich und trat übereifert ins Zimmer.

,,Nein, aber lange dauert es nicht mehr."

Stemmte meine Hebamme die Hände in die Hüfte und sah Paul abschätzig an.

,,Jetzt, wo Sie hier sind, kann ich Sie ja kurz alleine lassen."

Paul nickte bloß etwas entschuldigend und hockte sich dann sofort zu mir und striff mir lose Strähnen aus dem Gesicht.

Zwei Leben (Aktuell PAUSIERT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt