Kapitel 2

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Ich begann zu plaudern, das entspannte mich beim Autofahren. Ich hatte meinen Führerschein erst seit kurzem und war manchmal noch sehr nervös, wenn ich fahren musste. Des Weiteren half mir das Plaudern dabei die morgendliche Müdigkeit abzuschütteln. Es war so dunkel draußen, ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Natur vorgesehen hatte, dass Menschen zu dieser Tageszeit schon unterwegs sein sollten. »Ich muss heute einen Aufsatz über den Ring Polykrates abgeben. Wir durften uns die Themen aussuchen. Eigentlich wollte ich irgendwas zu Schillers Biografie machen, aber Madeleine war schneller als ich. Frau Pauly meinte, dass die Jahrgänge über uns immer Kurzreferate halten mussten, aber sie meinte, dieses Jahr seien Aufsätze einfacher. Die kann jeder zu Hause schreiben, falls wir spontan in Quarantäne müssen. Dann ist man unabhängiger. Am Ende will Pauly eine Mappe mit unseren Aufsätzen zusammenstellen. Jeder bekommt ein Exemplar. Ich glaube ja nicht, dass sich je jemand die Aufsätze der anderen durchlesen wird. Aber lassen wir sie mal in dem Glauben. Wir wollen ihr schließlich nicht die Freude rauben. Wie läuft bei dir die Arbeit?« Meine Mutter gab sich immer Mühe, mein Fahren nicht zu kommentieren, auch wenn ich wusste, dass ihr Verbesserungsvorschläge auf der Zunge brannten. Ich fuhr gut, das wusste ich. Tempo, Schalten, Lenken, auf der Fahrbahn bleiben, ich hatte mittlerweile ein gutes Gefühl dafür, noch dazu war mir die Strecke super vertraut. Aber meiner Mutter fiel bestimmt etwas auf, was ich besser machen könnte oder vorauf ich besser achten sollte. Ich kannte sie ja. Mittlerweile riss sie sich zusammen und bewortete stattdessen meine Smalltalk-Frage.

»Stressig. Zeynep hat sich krankgemeldet. Jetzt muss ich für sie diese Woche einspringen.«

»Arme Zeynep. Aber dann hast du bestimmt ganz viel frei, wenn sie wieder da ist.« Zeynep war eine Vollzeitkraft in dem Supermarkt, in dem meine Mutter arbeitete. Dass sie ausfiel, musste den ganzen Arbeitsplan durcheinanderbringen. Meine Mutter arbeitete im Gegensatz zu Zeynep auf 400 Euro-Basis. Sie hatte den Job Anfang dieses Jahres angenommen, weil es finanziell bei uns schwieriger wurde. Der Märchenpark meiner Familie lief von Jahr zu Jahr schlechter und dieses Jahr musste er häufig kurzfristig schließen. Da kam der Minijob und die vielen Überstunden, die er mit sich brachte, ganz gelegen. Mein Vater, der sich anfangs aus dem Familienbusiness raushalten wollte, teilte, seit meine Großeltern im »Ruhestand« waren, seine Zeit. Zwanzig Stunden die Woche arbeitete er in einer Tischlerei und zwanzig Stunden im Familienunternehmen. In der Theorie. In der Praxis wurde es oft mehr. 

Mein Vater brauchte sein eigenes Auto um zur Arbeit zu kommen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre es fast unmöglich. Zum Supermarkt oder zu unserer Schule konnte man zumindest noch mit dem Bus fahren. Auch, wenn das sehr umständlich war. Deshalb teilten meine Mutter und ich uns das zweite Auto. Wenn es möglich war, nahm ich das Auto, um damit zur Schule zu fahren. Wenn meine Mutter an dem Tag arbeiten musste, kam sie mit, um dann von der Schule aus weiterzufahren. Was für mich und Konny bedeutete, dass wir nachmittags den Bus zurücknehmen mussten. Es hatte allerdings auch den Vorteil, dass ich morgens nicht nach einem Parkplatz suchen musste. Ich konnte einfach kurz am Rand halten, aussteigen und meine Mutter fuhr weiter.

Vor der Schule setzten Konny und ich schnell unsere Masken auf, bevor wir ausstiegen. Meine war geblümt mit schwarzem Hintergrund. Konrad trug eine schlichte schwarze Maske. Meine Oma hatte die Masken genäht und den Stoff gekauft, sodass wir uns die Muster aussuchen konnten. Die Maske meiner Mutter war größtenteils weiß mit ein paar kleinen Kamillenblüten. Wir schnappten uns unsere Rucksäcke und liefen zum Schulgebäude.

Ich ging durch den grauen Flur, der seit Jahren gleich aussah.

»Filiz!«, »Faralda!", riefen wir uns entgegen, als wir uns vor dem Geschichtsraum sahen.

Filiz trug wie immer ein dunkles, schlichtes Outfit und würde damit in den schlecht beleuchteten Flur passen, wenn sie nicht immer so schön und breit lächeln würde. Der Raum, in dem wir Geschichte hatten, war genauso trist wie der Blick aus dem Fenster. Vom Fenster aus blickte man auf einen Parkplatz. Am Bürgersteig hinter dem Parkplatz stand ein kleines Bäumchen, das bereits zur Hälfte seine Blätter verloren hatte. Dahinter kam die Straße, dann wieder ein Bürgersteig, eine braune Hecke und schließlich eine graue Hauswand. Ohne Kontaktlinsen hätte ich all dies nicht erkennen können. Der Verlust wäre zu verkraften gewesen. Madeleine stand vor der Klasse. Sicher wie ein Baum. In ihrer Hand hielt sie einen Stapel an Notizen.

Von Märchen und NovembergefühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt