5. November 2020. Walter kramte einen Notizzettel und einen Kugelschreiber aus dem Handschuhfach hervor und drückte diese seinem jungen Kollegen in die Hand. »Hier schreibst du deine Nummer auf.« Erik befolgte die Anweisungen, auch wenn er nicht an seinen Erfolg glaubte.
»Und deinen Namen, du Trottel.«
»Du hast nur Nummer gesagt.«
»Woher soll sie denn wissen, dass du es bist.«
»Ich dachte, ich gebe ihr den Zettel.«
»Schreib den Namen trotzdem auf.« Erik schrieb.
»Mensch, das kann ja so keiner lesen.«
»Sie weiß schon, wie ich heiße«, entgegnete Erik. Trotzdem schämte er sich. Den Zettel Faralda zu geben, würde einfach nur peinlich werden. Hauptsache man konnte die Zahlen erkennen. Man konnte sie doch erkennen? Er hielt den Zettel vor Walters Gesicht, damit dieser die Lesbarkeit beurteilen konnte. Er versicherte dem jungen Mann, dass es lesbar sei. Erik hoffte, dass er keine Zahlendreher reingebracht hatte. Ein weiteres Mal las er seine Nummer.
»Wenn die Kleine nach Hause kommt, gehst du in die Mittagspause. Auf dem Weg zum Bulli drückst du ihr den Zettel einfach in die Hand. Ganz cool. Musst dabei gar nicht viel sagen.«
»Und das klappt?«
»Bei meiner Frau hat es damals auch geklappt.« Als Walter und seine Frau sich kennengelernt hatten, gab es so etwas wie Handys nicht einmal. Trotzdem nach dreißig Jahren Ehe ohne Mord und Totschlag hielt er sich für den allergrößten Experten in Sachen Liebe und er sah es als seine Aufgabe an, sein Wissen an Erik weiterzugeben. »Du hast nichts zu verlieren. Schlechter als jetzt kann es eh nicht bei dir laufen.« Da hatte er nicht ganz recht. Zwar war Erik Single und würde das auch liebend gerne ändern, aber ganz so mau, wie sein Kollege es immer darstellte, lief es bei Erik dann doch nicht. Hin und wieder lernte er auch von sich aus Frauen kennen, mit denen er ein paar Mal schrieb. Das ein oder andere Mal ging er auf ein Date. Für mehr hatte es dann nie gereicht. Aber hey immerhin. Er glaubte fest daran, irgendwann die Richtige zu finden. Sie müsste ihm nur gefallen und er müsste ihr natürlich auch gefallen. In guter Hoffnung würde er Walters Rat befolgen, trotz der Angst sich zu blamieren. Irgendwie musste er sie schließlich ansprechen. Wenn nicht, würde er es bereuen. Denn er wusste, dass Faralda ihm so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen würde.
Den restlichen Arbeitstag war er auch nur mit halbem Kopf bei der Arbeit. Immer wieder erkundigte er sich nach der Uhrzeit und überlegte, wann Faralda wohl nach Hause kommen könnte. Er rechnete nicht vor halb zwei mit ihr. Halb zwei verstrich. Zwei Uhr verstrich auch. Drei Uhr auch. Seine anderen Kollegen waren schon alle in der Mittagspause gewesen. Es war ungefähr halb vier, als Walter ihm auf die Schulter klopfte.»Was ist los?« Dann begriff er und schaute zur Einfahrt der Straße. Zwischen den Bullys kam Faralda hervor. Sie sah auf ihr Handy.
»Ich gehe dann mal«, sagte er an seine Kollegen gewandt, die ihm viel Glück wünschten. Er setzte seine Maske ab und beeilte sich, versuchte aber nicht zu rennen.
»Hey, warte mal kurz«, rief er, während er auf sie zu kam. Hoffentlich verschreckte er sie nicht damit.
Sie sah aus ihrem dicken Schal heraus zu ihm hinauf. Die schwarzen Haare umrahmten ihr Gesicht. Ihre graublauen Augen sahen direkt in die seinen. Sie trug kein Make-up bis auf roten Lippenstift. Ihm fiel auf, dass keiner von ihnen eine Maske trug und sie sich nicht besonders gut kannten, er sollte vermutlich mehr Abstand halten. Also ging er einen Schritt zurück. Sie lächelte ihn an.
»Was gibt es?«
»Ich hab noch was für dich.« Sie sah ihn fragend an. Er zog das kleine Stück Papier aus seiner Jackentasche heraus. »Hier,« sagte er und kam ein Stück näher, um ihr den Schnipsel zu geben. Dann ging er wieder unbeholfen einen Schritt zurück. »Meine Nummer. Nur für den Fall, dass der Park brennt oder wieder irgendwelche Hexen gerettet werden müssen. Also nur damit du mich im Notfall erreichen kannst. Du musst sie auch nicht einspeichern oder so.«
Sie bedankte sich und lächelte ihn an.
»Nur für den Notfall oder darf ich dir auch einfach so mal schreiben?« Er wurde rot.
»Du darfst auch so schreiben«, sagte er schließlich. Er kämpfte gegen ein breites Grinsen an.
»Cool, man sieht sich«, sagte sie und ging weiter zum Haus. Er ging weiter zum Bully, um dort seine Mittagspause zu machen.
Sie lief hoch in ihr Zimmer. Dort drehte sie sich im Kreis, beschwingt von der Tatsache, dass der Typ sie angesprochen hatte. Sie war ihm also auch aufgefallen, genauso, wie er ihr aufgefallen war. Sie spürte, dass dieses Jahr doch noch großartig werden würde. Sie fühlte sich leicht, glücklich und zuversichtlich. Ihr Zimmer hatte gerade genügend freie Fläche, um sich mit weit ausgestreckten Armen sorglos im Kreis zudrehen oder um eine Yogamatte auszubreiten, so wie sie es sich allzu oft vornahm.
Die Möbel standen ringsherum nah an die Wände gestellt. Ihr zwei Meter mal 1,40 Meter breites Bett stand in der einen Ecke, ein Schminktisch in einer anderen. Entlang der langen, geraden Wand stand ihr Kleiderschrank. Unter dem Fenster stand ein großer Schreibtisch und unter der Dachschräge, an der sich schon viele die Köpfe gestoßen hatten, standen mehrere Kommoden. Die Wände waren weiß gestrichen. Ihr Zimmer war schlicht und gemütlich, mit dunkelbraunen, fast schwarzen Akzenten und haufenweise Pflanzen. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen, sank ein in die Gemütlichkeit und widmete sich ihrem Handy. Sie schickte Filiz eine Sprachnachricht, in der sie von ihrer neuen Bekanntschaft erzählte und schrieb ihn mit klopfendem Herzen ihn an.
»Hi, ich bin es Faralda. Du kannst meine Nummer ja einspeichern, dann wunderst du dich nicht so, wenn ich dich verzweifelt anrufe und Hilfe brauche.« Dann lief sie ins Badezimmer. Von dem Zimmer aus konnte sie eventuell sehen, ob er noch in der Pause war. Sie stellte fest, dass sie den Bully nicht sehen konnte, nur die Baustelle lag in ihrem Blickfeld. Bis jetzt war er nicht da. Sie schaute wieder auf ihr Handy. Er hatte mit einem »Alles klar« geantwortet. Faralda sprang nun auf und ab. Dann sah sie, wie er über die Straße zu Baustelle lief. Schnell ging sie in ihr Zimmer und legte ihr Handy beiseite.
Als Erik wieder bei Baustelle war, erzählte er seinen Kollegen stolz, dass sie den Zettel angenommen und ihm sogar schon geschrieben hatte. Seine Kollegen beglückwünschten ihn und er war froh, die OP-Maske zu tragen, denn sonst würden sie sehen, wie breit er grinste.
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Von Märchen und Novembergefühlen
Teen FictionNovember 2020. Weltweit war es bis dato ein verrücktes Jahr. Für Faralda, 18 Jahre alt, privilegiert, kurz vor dem Abitur, war es vor allem ein ruhiges Jahr. Doch diesen November könnte sich alles ändern. Die Nerven liegen blank und zum ersten Ma...