11.11.2020. An jenem Novembermorgen, als Faralda das Haus verließ, wurde sie von einer eisigen Luft empfangen und eine weiße Schicht aus Frost hatte sich über den Boden und die Pflanzen gelegt. Das war kein Wetter für Menschen. Sie schnallte ihren Mantel enger und zog die Mütze tiefer. Diese Woche war anders, als sie die letzten Jahre gewesen wäre. Diese Woche zogen keine Kinder mit Laternen durch die Straßen und im Rheinland würde die fünfte Jahreszeit nicht ihren gewohnten Einzug erhalten. Nur das Internet blieb belebt, berichtete und erinnerte an die Schrecken der Vergangenheit.
Im Auto drehte sie die Heizung an. Bis sie an der Schule ankamen, würde es muckelig warm sein. Ihre Mutter würde die Heizung bestimmt wieder herunterdrehen müssen, wenn sie zur Arbeit weiterfuhr. Manchmal wäre es praktisch, wenn Faralda ein eigenes Auto haben würde. Aber dann müsste sie sich einen Parkplatz suchen und Parkplätze in Schulnähe waren knapp. Haltemöglichkeiten, an denen sie schnell mit ihrer Mutter wechseln konnte, waren da einfacher zu finden. Außerdem müsste sie für ein eigenes Auto Unmengen an Geld ausgeben.
»Passiert heute was Spannendes in der Schule?« Ihre Mutter bemühte sich um Smalltalk. Von Konrad, der auf der Rückbank döste, würde sie keine Antwort bekommen.
»Ich schreibe heute einen Test. In Geschichte.«
»Und fühlst du dich gut vorbereitet?«
»Für eine drei wird es schon reichen.« Mit etwas Glück auch für eine zwei.
»Und bei dir so?«, fragte sie ihre Mutter, »Steht heute irgendetwas Spannendes an?«
»Arbeit und Wäsche waschen und lauter solche spannenden Dinge.«
»Wie lange musst du denn heute arbeiten?«
»Nur vormittags. Also bis zwei Uhr.« Dann würde sie wohl kurz nach Faralda nach Hause kommen.
»Geht es Zeynep wieder besser?«
»Ja, sie ist wieder fit. Sie übernimmt ab morgen meine Schichten für den Rest der Woche, weil ich letzte Woche für sie eingesprungen bin. Nur heute kann sie nicht.«
»Das ist schön. Also vor allem, dass es Zeynep wieder besser geht. Aber auch, dass du diese Woche so viel frei bekommen konntest.«
Faralda bog in eine Nebenstraße der Schule ein. Hier konnte man besser halten. Mit klappernden Zähnen ging sie zum Schulgebäude. Faralda wollte am liebsten in eine Winterstarre verfallen. Konrad schien die Kälte dabei zu helfen, wacher zu werden.
Den Rest des Tages wurde es nicht wesentlich wärmer. Doch zumindest verschwand der Frost. Als Faralda nach Hause kam, merkte sie erst, wie kalt ihre Beine geworden waren. Sie kochte sich eine Tasse Früchtetee und legte sich im Anschluss unter eine Decke. Sie konnte hören, wie ihr Bruder in der Küche kramte. Er machte sich vermutlich Reste vom gestrigen Abendessen warm. Sie hörte wie die Mikrowelle piepte und wie Konrad dann die Treppe hoch in sein Zimmer ging. Faralda war noch zu faul zum Essen, sie wollte noch gemütlich auf der Couch sitzen bleiben. Sie hatte sowieso noch keinen Hunger. Stattdessen beobachtete sie die Himbeerdampfwolken, die von ihrem Tee aufstiegen. Ihr wurde wärmer und sie genoss das Leben, während sie ihren Tee austrank. Ihr Vater war noch bei der Arbeit, auch ihre Mutter war noch nicht wieder zu Hause.
Das Festnetztelefon klingelte. Allein die Tatsache, dass es klingelte, fand Faralda schon recht verwunderlich. Sie nahm an, dass das Telefon mehr aus melancholischen als aus praktischen Gründen noch im Wohnzimmer stand. Sie ging dran, sagte ihren Namen und für einen kurzen Moment blieb ihr das Herz stehen. Eine Dame von dem städtischen Klinikum hatte sich am anderen Ende gemeldete. Kalter Schweiß bildete sich auf Faraldas Stirn. Es wurde schlimmer, als die Dame ihr erklärte, dass ihre Mutter einen epileptischen Anfall im Auto gehabt hätte und nun wegen einer Kopfverletzung im Krankenhaus sei. Als der Anruf beendet war, hüllte sich Faralda in eine der Wohnzimmerdecken und setzte sich zusammen gekauter auf das Sofa. Atmete. Wischte sich eine kleine Träne aus ihrem Gesicht. Es half nichts, sie konnte nicht lange hier so sitzen bleiben, sie stand auf, ging nach oben, setzte einen neutralen Gesichtsausdruck auf und sagte so ihrem Bruder Bescheid. Er wurde kalkweiß.
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Von Märchen und Novembergefühlen
Novela JuvenilNovember 2020. Weltweit war es bis dato ein verrücktes Jahr. Für Faralda, 18 Jahre alt, privilegiert, kurz vor dem Abitur, war es vor allem ein ruhiges Jahr. Doch diesen November könnte sich alles ändern. Die Nerven liegen blank und zum ersten Ma...