Die Luft war frisch. Erik und ich gingen nebeneinanderher. Wir berührten uns nicht, da war Abstand zwischen uns. Erik erzählte etwas, ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Mein Blick glitt durch den Wald. Ich liebte den Geruch. Mir gefiel das Rascheln unter meinen Füßen, wenn ich über kleine Äste oder Blätter ging. Auch das Wissen, wie viele Tiere hier ihr zu Hause hatten, war beruhigend. Das hier war auch mein Zuhause. In Eriks Elternhaus hingegen, obwohl alle nett zu mir gewesen waren, hatte ich mich unheimlich fremd gefühlt. Irgendwie fehl am Platz. Erik machte eine Gesprächspause, wahrscheinlich, damit ich die Chance hatte, mich zu dem Thema zu äußern. Sie könnte die Gelegenheit nutzen.
»Ich will nicht Weihnachten mit deiner Familie feiern«, platzte es aus mir heraus. Abrupt blieben wir stehen.
»Wo kommt das denn jetzt her?« Er war sichtlich überrascht.
»Das kam mir nur gerade in den Kopf.« Ich sah ihn entschuldigend an. »Deine Familie hat so viel über Weihnachten geredet. Das war auch echt nett, dass sie mich so in ihre Pläne involviert haben. Aber ich bin noch nicht dafür bereit.« Zudem glaubte ich fest daran, dass die Coronamaßnahmen eine Feier in der Größenordnung nicht zulassen würden und dass es auf keinen Fall vernünftig wäre. Hier ging es jedoch um das Prinzip.
»Ich bin doch dein Freund. Da ist es normal, dass man Weihnachten miteinander verbringt. Möchtest du das nicht?«
Ich knabberte an meiner Lippe herum. Er legte einen Arm auf meine Schulter. Das brachte mich kurz aus dem Konzept. Ich fühlte mich schlecht. Als würde ich es ihm unnötig schwer machen. Ich liebte ihn doch. Aber es fühlte sich so schnell an. Ich wollte Weihnachten nicht mit ihm verbringen. Jedenfalls nicht mit seiner Familie. Wir hatten Traditionen. Weihnachten verlief bei mir immer gleich. Ich, meine Eltern und Konrad. Wir besuchten Oma und Opa, wir gingen in die Kirche, wir aßen, wir packten Geschenke aus. Am nächsten Tag schliefen wir aus, schauten dann einen weihnachtlichen Film während wir frühstückten, packten die letzten Geschenke ein, gingen spazieren und aßen dann bei Oma und Opa, mit meiner Tante und meinen Cousinen. Ich wollte nicht, dass sich etwas daran veränderte. Ich würde nicht wollen, dass jemand fehlte, genauso wenig wollte ich, dass jemand dazu kam. Es war gut so wie es war. Ich wollte nicht bei einer anderen Familie sitzen, während meine Familie, die Leute, die ich seit mehr als zwei Monaten kannte, bei meinen Großeltern saßen.
»Was bedeutet das für mich, wenn du noch nicht so weit bist?« Er sah so ernst aus. Wenn ich nur bloß die Stimmung lockern könnte.Ich griff nach seinen Händen, stand ihm nun gegenüber, lächelte ihn beschwichtigend an, schwang die Arme hin und her.
»Sei mein Novemberprinz. Tanz mit mir durch die Nacht. Lern mich besser kennen. Erlebe mit mir Abenteuer. Wenn wir einander gut kennen und wissen, wie sehr wir uns lieben, wenn wir füreinander und für unsere Verwandten zur Familie geworden sind, dann können wir Feiertage oder Urlaube miteinander planen.«
Er überwand sich zu einem Lächeln. Er schien es nicht für die optimale Lösung zu halten. Aber er widersprach nicht. Es war eine Übergangslösung.
»Warst du mal bei einer Tanzschule?« Ich sah ihn erwartungsvoll an. Er antwortete mit einem zögernden Ja.
»Ist noch was hängen geblieben?« Ich versuchte, beiläufig zu klingen. Ich wollte nicht zu hohe Erwartungen an ihn stellen. Das schien ihn zu beruhigen.
»Ein bisschen Walzer, vielleicht auch ein bisschen Cha-Cha-Cha würde ich bestimmt noch hinkriegen.« Er versuchte jetzt lässig zu sein. Ich grinste, das würde ich gleich auf den Prüfstand stellen.
»Wollen wir das ausprobieren?« Er willigte ein und zog mich näher zu sich. Wir sortierten die Arme um, um in einer ordentlichen Tanzposition zu stehen.
»Erst der Walzer?«, fragte er.
»Erst der Walzer.« Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei.»Wenn du ganz leise bist, kannst du vielleicht die Feen singen hören«, flüsterte ich. Ich wog mich zu den sachten Klängen. Unsicher, ob Erik etwas hören konnte, schlug ich ihm vor, richtige Musik anzumachen. Ich löste mich aus seinem Griff, um mein Handy aus der Tasche zu holen und Musik anzumachen. Es musste ein romantisches Lied. Ich nahm das erst Beste, was Spotify mir vorschlug. Erik war einverstanden mit dem Lied, er hatte sowieso keinen besseren Vorschlag. Vorsichtig platzierte ich mein Handy auf einem Stein, sodass der Lautsprecheranschluss nicht verdeckt wurde. Der sicherste Ort war das nicht. Aber der praktischste. Ich stellte die volle Lautstärke ein und setzte das Lied auf Anfang. Dann rannte ich schnell auf Zehenspitzen zu meinem Novemberprinzen. Auf Zehenspitzen deshalb, weil ich befürchtete, dass zu kräftige Schritte den Boden so erschüttern könnten, dass das Handy von dem Stein fiel. Sicher, meine Logik hatte oft Lücken. Ich glitt wieder in Eriks Arme und versuchte mich auf die Musik zu konzentrieren. Als ich den Rhythmus gefunden hatte, sah ich ihn an und begann laut zuzählen.
»Eins zwei drei, eins zwei drei.« Bei der zweiten eins setzte Erik den Fuß nach vorne, ich folgte, indem ich meinen Fuß zurücknahm. Ich staunte darüber, wie schön die Welt sein konnte. Ich versuchte mir den Moment zu merken, ihn in meinem Gedächtnis wie ein impressionistisches Gemälde festzuhalten. Das Spiel des Lichtes durch die Bäume, Eriks liebevolle Blicke, der sanfte Wind, meine schwingende Haare. Es war ein schönes Bild. Es fühlte sich noch viel schöner an.
Dann ein klimperndes Geräusch. Etwas war zu Boden gefallen. »Was war das?« Ich blickte zu meinem Handgelenk. »Scheiße.« Die Uhr hatte sich gelöst. Ich blickte zu Boden. Dort lag sie in Einzelteilen. Ich sammelte sie auf. Das Ziffernblatt schien unbeschädigt zu sein. Das Bändchen war instabil. Der Verschluss war kaputt. Ich sammelte zwei kleine Ringe auf.
»Siehst du noch was?« Erik und ich suchten den Boden nach weiteren Einzelteilen, vielleicht hatte sich noch etwas zwischen den Kieselsteinen versteckt. Als wir nichts finden konnten, war ich erleichtert. Ich legte die Uhr neben mein Handy. Dann tanzten wir weiter und danach gingen wir spazieren. Bei Sonnenuntergang waren wir wieder bei seinem Auto angelangt.
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Von Märchen und Novembergefühlen
Novela JuvenilNovember 2020. Weltweit war es bis dato ein verrücktes Jahr. Für Faralda, 18 Jahre alt, privilegiert, kurz vor dem Abitur, war es vor allem ein ruhiges Jahr. Doch diesen November könnte sich alles ändern. Die Nerven liegen blank und zum ersten Ma...