Komisch. Erik hatte sich immer noch nicht gemeldet. Stattdessen rief mein Opa an.
»Oma fragt, ob ihr noch im Märchenwald seid,« meinte er.
»Wie, ob wir noch im Märchenwald sind?«
»Ja du und Erik.« Wie kamen die beiden denn darauf?
»Wir sind nicht im Wald.«
»Ach, seid ihr gar nicht mehr da? Wir haben Kuchen. Wir hätten sonst angeboten, dass ihr vorbeikommen könnt und euch Stücke abholt.«
»Wir waren heute gar nicht... Zumindest war ich heute nicht im Wald. Wie kommst du darauf, dass wir im Wald seien?«
»Ich habe Erik heute in den Wald gehen sehen. So um kurz nach fünf. Habt ihr euch nicht dort getroffen?«
»Nein.« O Scheiße, ich hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl. »Wir wollten uns heute treffen. Hier zu Hause. Aber er kam nicht. Er geht nicht an sein Handy. Was, wenn er tiefer in den Wald gegangen ist? Meine Uhr. Ich habe letztens gedacht, ich hätte sie im Wald verloren. Vielleicht wollte er es holen.« Ich hatte ihm nicht Bescheid gesagt, dass ich sie heute Morgen gefunden hatte. Ich wollte ihm das noch schreiben, aber zogen die Stunden so schnell vorbei und ich hatte tausend andere Gedanken an diesem Tag gehabt und nicht mehr daran gedacht. Wie konnte ich so dumm sein? Ich hätte ihm das schreiben sollen, nachdem wir gestern soviel über die Uhr geredet hatten.
»Sollen wir los, den Jungen suchen?«
»Ja Opa, das wäre gut, wir sollten zumindest einmal gucken, ob er da ist. Ich frage Konrad, ob er mitkommt.«
Ich zog mir ein weiteres Sweatshirt über mein Top. Dann klopfte ich an der Konrads Zimmertür.
»Konny! Was machst du gerade?«
Er machte auf, wirkte leicht genervt.»Kannst du mir helfen?«, fragte ich ihn in meiner liebenswürdigsten, aber eindringlichsten Schwersterntonlage. Schnell erklärte ich ihm, was los war. Konrad sagte sofort seine Hilfe zu. Wir schlüpften unten schnell in Schuhe und Stiefel.
»Mama! Papa!«, rief ich ins Wohnzimmer herein, laut genug, um den Fernseher zu übertrumpfen.
»Ja! Was ist los?«, hallte es heraus.
»Konrad und ich gehen in den Wald. Erik wollte heute vorbeikommen. Aber er kam nicht und er geht nicht ans Handy. Opa hat gesehen, wie er heute in den Wald gegangen ist. Wer weiß, vielleicht ist er immer noch da, vielleicht hat er sich verlaufen oder sonst was«, ich redete, ohne Luft zu holen.
Mein Vater war vom Sofa aufgestanden und stand nun im Türrahmen. »Wollt ihr ihn jetzt suchen gehen?«
»Ja, genau.«
»Braucht ihr Hilfe?«, fragte er und schaute dabei zu, wie ich mir meinen gelben Regenmantel überzog.»Danke, Opa kommt mit.« Dann sagte ich etwas leiser: »Bleib mal lieber mit Mama hier.« Meiner Mutter schien es wieder gutzugehen, aber es fühlte sich noch nicht so an. Mir war es lieber, wenn mein Vater bei ihr zu Hause blieb und wer weiß, möglicherweise handelte es sich auch um einen falschen Alarm und Erik war gar nicht im Wald. Es musste ja nicht gleich die ganze Familie ihre Zeit verschwenden. Ich sah mich im Flur nach meinem Schlüssel um und beschloss dann keinen mitzunehmen.
»Ich nehme keinen Schlüssel mit. Ihr lasst uns doch bestimmt später wieder rein?«
»Ich hab einen Schlüssel mit«, warf Konrad ein.
»Warum ist er denn in den Wald gegangen?«, fragte mein Vater. Dafür war jetzt keine Zeit.
»Ach was weiß ich«, antwortete ich genervt. Ich wollte jetzt los. Hektisch suchte ich nach meinem Handy, welches ich, wie ich dann feststellte, schon längst in meine Manteltasche getan hatte. Ich griff nach meinem dicken Schal und einem Stirnband.»Ich habe mein Handy dabei. Der Ton ist an. Wenn etwas ist, rufe ich an«, rief ich, als Konrad und ich das Haus verließen. Im flotten Schritt gingen wir zunächst zum Haus unserer Großeltern. Auf dem Weg dorthin, zog ich mir im Laufen Schal und Stirnband über. Anschließend die Kapuze, für die es eigentlich schon zu spät war. Meine Haare waren völlig durchnässt. Es regnete nicht sonderlich stark, nichtsdestotrotz fiel ein kontinuierlicher Nieselregen. Ich klingelten bei den Großeltern und dann gingen wir zu dritt mit Taschenlampen und Handytaschenlampen in den Wald.
Ich malte mir aus, was Erik alles im Wald passieren könnte. Die Wege waren uneben und man sah sie im dunkel schlecht. Er könnte stürzten. Außerdem trieben sich Luchse und Wildschweine in dem Wald herum, denen wollte man nicht begegnen. Nicht, dass mir oder Konrad je etwas Schlimmes im Wald zugestoßen wäre. Aber wir kannten die nahe Umgebung in- und auswendig. Seit wir klein waren, hatten wir dort gespielt. Wir hatten einiges an Abenteuern erlebt. Die gefährlichen Details dieser Abenteuer verschwiegen wir unseren Eltern größtenteils.
Wir nahmen den Weg, der vorbei am Märchenwald in den Wald führte. Dann kam die erste Gabelung. Als ich mit Erik im Wald war, sind wir nach rechts in den Wald gegangen, einen Bogen gelaufen und dann an der linken Seite wieder aus dem Wald herausgegangen. Ich ging nach rechts. Mein Bruder und Opa nahmen den linken Weg.
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Von Märchen und Novembergefühlen
JugendliteraturNovember 2020. Weltweit war es bis dato ein verrücktes Jahr. Für Faralda, 18 Jahre alt, privilegiert, kurz vor dem Abitur, war es vor allem ein ruhiges Jahr. Doch diesen November könnte sich alles ändern. Die Nerven liegen blank und zum ersten Ma...