Kapitel 8

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Erik musste heute lange arbeiten. Aber nach Feierabend kam er zu mir. Wir kochten Nudeln, aßen mit meinem Bruder und meinem Vater gemeinsam, während der Fernseher lief. Dann gingen wir in mein Zimmer, um einen Film zugucken. Wir setzten uns auf mein Bett. Ich schaltete den Fernseher an und öffnete das Netflixmenü.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Erik, während ich durch das Menü fuhr. Ich pausierte das Suchen für einen Moment, denn ich musste tatsächlich nachdenken.

»Kennst du das Märchen, von einem, der auszog das Fürchten zu lernen?« Das sagte Erik zunächst nichts. »Okay, dann gebe ich dir die Kurzfassung: Es geht um einen Typen, der sich einfach vor nichts fürchtet. Seine Eltern sind schon ganz besorgt, sie halten ihn sowieso nicht für den aller hellsten. Er zieht aus in die große weite Welt, um das Fürchten zu lernen. Er landet in einem Gruselschloss. Ein König versprach dem, der es lange genug dort aushält, seine Tochter zur Frau. Der Typ stellt sich furchtlos allen Gefahren und heiratet dann die Prinzessin. Er ist ziemlich enttäuscht, dass er das Ziel seiner Reise, also das Fürchten nicht erreichen konnte. Also schüttet ihm seine neue Frau in der Hochzeitsnacht, während er schlief, einen Eimer kalten Wassers mit Fischen über den Kopf. In dem Moment erschrickt er sich. Das Lustige an der Geschichte ist, finde ich, dass er all diesen Gefahren trotzt, vor denen sich andere gefürchtet hätten und er ist ja im Recht, er konnte alle diese Situationen lösen und ist unbeschadet zurückgekommen. Durch seinen Mut konnte er Erfolge feiern. Doch sobald er wirklich in Sicherheit war, konnte ihn so etwas Banales gruseln. Die Frage ist, ob er jetzt für immer seinen konsequenten Mut und seine Lösungsorientiertheit verloren hat oder ob ihn die Furcht um eine weitere Komponente reicher gemacht hat.«

Erik wirkte nachdenklich. Er hatte keine Antwort für mich. Er hielt mich nur etwas fester als zuvor. Wir sahen den Film, sahen die flackernden Bilder, doch ich folgte ihnen mit meinen Gedanken nicht. Ich dachte an meine Mutter, ich dachte daran, wie viel Angst ich gehabt hatte. Wie viele Leute, wohl täglich von einem Krankenhaus angerufen werden, die sich zu vor noch einen Tee gemacht hatten und dachten, dass es ein normaler Tag sein würde. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn es eine Todesnachricht gewesen wäre. Jeden Tag verloren Menschen ihre Liebsten. Die Welt um mich herum war am Brennen, seit tausenden von Jahren schon, das wusste ich bereits. Doch dieses Jahr wurde es besonders sichtbar. Doch hier in diesem Land, zum Großteil, und vor allem voll und ganz auf diesem Grundstück in der Habichtstraße, war noch immer alles in Ordnung. Hier wohnte das Glück. Es war unverdient und nicht gerecht verteilt, doch was hätte man dagegen tun können. Das Glück herausfordern? Den Lieblingsring ins Meer werfen? Nur, weil es auf der Welt unfair zuging? Das Glück saß, wo es saß und wo es nicht saß, da fehlte es. Das Glück war ein Gewohnheitstier und viel zu träge, um einfach so von dannen zu ziehen. Das Pech hingegen war ein emsiger Parasit, der an allem nagte, was ihm in die Quere kam. Jetzt schien es unser Haus gefunden zu haben. Ich spürte nun, wie sich sein Schaden anfühlen konnte und es grauste mir vor allem, was nun noch kommen möge.

Ich versuchte, mich aus meinem Gedankenkreis herauszureißen. Ich löste meinen Blick von den flackernden Bildern und ließ ihn zu Erik wandern. Es war merkwürdig. Wie nah konnten wir uns sein? Noch schwebten wir in einem Zwischenstadium, nicht wissend, wie nah der andere einem sein wollte und wie nah man selbst dem anderen schon sein wollte. Aber es war schön, nicht allein zu sein. Ihm wurde bewusst, dass ich ihn ansah. Kurz sah er zu mir rüber und lächelte mir versichernd zu. Dann sahen wir beide wieder zum Fernseher. 

Von Märchen und NovembergefühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt